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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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aus Eiche und Ahorn, an allen Nahtstellen verzapft, und wurde vor langer Zeit von Gulag-Insassen gebaut, genau wie mein klotziger Tisch. Die geschwungenen Armlehnen sind von unzähligen Ellbogen blank gerieben, außer dort, wo zerklüftete Krater und Schluchten in das Holz getrieben sind. Die Tinte darin erinnert an Flusswasser – größtenteils sind es zufällige Flecken, wahrscheinlich von gelangweilten sowjetischen Bürokraten, die im wörtlichen wie im bildlichen Sinn ihre Zeit auf diesem Stuhl absaßen. Die Zeit vor der Mittagspause oder vor Dienstschluss oder vielleicht die Zeit bis zur nächsten Säuberungsaktion – das grauenvolle Wummern einer behandschuhten Faust gegen die Tür, das einem die Ankunft der Geheimpolizei und den Beginn vom Rest des eigenen Lebens ankündigt.
    Während der Stalin-Ära wurden die Razzien verfeinert und zu einer mechanischen, unpersönlichen Routine, die einen zu einem nicht mehr menschlichen Wesen degradierte, sobald man aus irgendeinem absurden Grund verhaftet worden war. Vor seinen Kollegen oder, noch schlimmer, der verängstigten Familie wurde man weggeschleppt und zusammen mit anderen verlorenen Seelen in den käfigartigen Fond eines Polizeiwagens gestopft. Auf der schrecklichen Fahrt wurde man herumgestoßen, bis man die Lubjanka oder eines der vielen anderen Gefängnisse erreichte, wo sie einen fotografierten, ausgezogen und durchsuchten – mit dem Finger in jeder nur denkbaren Körperöffnung. Dann steckten sie einen in eine Zelle, wo man nackt in fünf Zentimeter tiefem, eiskaltem Wasser stand und in unterschiedlichen Abständen zum Verhör abgeholt wurde. Früher oder später, je nachdem, wie viel man aushielt, unterschrieb man zwangsläufig das Geständnis. Denn wer in der Sowjetunion verhaftet wurde, war niemals unschuldig.
    War das Geständnis unterschrieben und die Schuld eingestanden, wurde man mit der Eisenbahn in einem der mörderischen Strafgefangenen-Waggons durch Tundra und Taiga in den Norden abtransportiert. Hin und wieder bekam man Essensreste, eine Tasse Wasser und vielleicht einen Eimer als Toilette, den man dann mit dreißig anderen teilen konnte, dicht an dicht in einer rollenden Zelle, umgeben von Stacheldraht und Stahlgitter. Dann, irgendwann, Wochen oder Monate später, wenn man die Reise überlebt hatte, erreichte man das Lager, wo man die Tage mit harter Arbeit verbrachte, immer am Frieren und immer kurz vor dem Verhungern.
    Mein Vater verschwand im Gulag, kurz nachdem meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war. Da er beim Militär war, kann er überall aufgesammelt worden sein – in der Kaserne, auf dem Stützpunkt oder auf der Straße. Einmal fand ich den Namen S. Volkovoj unter den politischen Häftlingen eines Lagers in Kolyma im Winter 1979, aber das hatte wahrscheinlich nichts zu bedeuten, zumal Volkovoj kein allzu seltener Name ist.
    All diese unproduktiven Gedanken strömen durch mein Unterbewusstsein, während ich darüber nachdenke, welche Schlüsse ich aus Matthews’ Worten ziehen kann. Vor allem wahrscheinlich, dass der Nordkaukasus einer der gefährlichsten Orte der Welt ist – ein tödliches Amalgam aus Kriegsherren, Stammesführern, politischen Amtsträgern und ihren Apparatschiks, kleinen Mafija-Gangstern. Wenn Valja in Grosny ist, dann hat sie sich direkt ins Fadenkreuz begeben.
    Golko ruft zurück. »Ravi Kho war der Anführer von Peace Now, einer subversiven Gruppe aus Singapur. Er hielt sich bis vor Kurzem in Grosny auf und hat dort die übliche separatistische Propaganda verbreitet. Und, ja, er soll sich sowohl mit Khanzad als auch mit Abreg getroffen haben. Wussten Sie, dass Abreg mal Journalist war? Jetzt ist er ein Krüppel.«
    Ich stelle mir Abreg in diesem Augenblick vor, bucklig und krumm, wie er sich auf seinen knorrigen Gehstock stützt und vom Rand der Grube auf mich hinuntersieht. Ich werfe einen Blick dorthin, wo mal mein linker Fuß war, und mache in Gedanken eine kurze Bestandsaufnahme meiner kaputten Psyche. Viele von uns sind Krüppel, auf unterschiedliche Art.
    »Was ist mit Ravi?«, frage ich.
    »Er wurde vor zwölf Tagen auf einem privaten Anwesen in der Nähe von Susdal mit einer selbst zugefügten Schusswunde im Kopf aufgefunden.«
    Susdal ist eine ehemalige mittelalterliche Hauptstadt, die Silhouette ein Meer von Kuppeln. Es liegt an der Kamenka, weniger als dreißig Minuten nördlich von Wladimir.
    »Wessen Anwesen?«
    »Na ja, das ist das Seltsame. Ich ... wissen Sie, letztes Mal wollten Sie

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