Im Schatten des Kreml
gefährlichsten Gebiete in Tschetschenien und unter anderem der Geburtsort eines inzwischen verstorbenen Terroristenführers. »Hat mir den Hüftnerv durchtrennt. Zu weit oben, um den Schmerz in meinem Bein loszuwerden, selbst wenn ich das verdammte Ding abschneide. Also behalt ich es und schlepp es durch die Gegend. Warum, weiß ich nicht genau. Aus Sentimentalität, nehm ich an.«
Ich zeige auf das Geld in seiner Mütze. »Wie viel davon gehört dir?«
»Nichts. Mein Aufpasser kriegt alles, ich bekomm eine Tüte mit einer Scheibe Fleisch, altem Brot und einer so großen Flasche Wodka.« Er hält Daumen und Zeigefinger ungefähr acht Zentimeter auseinander. »All das für zwölf verdammte Stunden Drecksarbeit.« Sein schiefes Lächeln entblößt einen Friedhof gelber, krummer Zähne. »Tolles Geschäft.«
Seine Situation ist nicht ungewöhnlich. Die Mafia lässt reihenweise invalide Soldaten und ausgemergelte Babuschkas als Bettler für sich arbeiten, von denen jeder an die fünfzehnhundert Rubel am Tag einnimmt.
»Für wen bist du unterwegs?«, frage ich, und er nennt mir den Namen eines Kleinganoven am Ende einer langen Kette, die bis hinauf zu Maxim reicht, der Nummer eins.
Der Zug kommt schaukelnd zum Stehen. Ich drücke ihm fünftausend Rubel in die Hand. »Das ist für dich, nicht für ihn.«
Als er mir dankbar zunickt, surrt mein Telefon, die Nummer ist unterdrückt. Ich jage die Treppen hoch und hoffe, dass die Verbindung nicht abbricht.
»Valja?« Ich halte den Atem an.
»So ist es besser«, antwortet sie klar und deutlich. Sie klingt, als stünde sie einen Meter vor mir, und ich wünschte, es wäre so. »Ich habe ein neues Handy – ein eigenes, kein geliehenes. Willst du die Nummer?«
Draußen vor der Metrostation wirken die Sturmwolken plötzlich nicht mehr so düster. Ich stapfe los in Richtung Basilius-Kathedrale, wo ich Golko treffe. »Klar«, sage ich, im gleichen beschwingten Tonfall wie sie. »Vielleicht rufe ich mal an.«
»Oh! Aber vielleicht habe ich dann keine Zeit ranzugehen.«
Ich merke mir die Nummer. »Bist du in Tschetschenien?«, erkundige ich mich und denke gleichzeitig, dass ich ein Feigling bin, weil ich mich immer noch nicht traue, ihr zu sagen, wie ich mich fühle. Wie sehr ich sie brauche.
»Im Moment in Wladikawkas«, erwidert sie.
Wladikawkas, die Hauptstadt von Nordossetien, liegt im Schatten des Kasbek, eines der großen Riesen der südlichen Gebirgskette. Sie wurde ursprünglich als eine der Garnisonsstädte von Peter dem Großen erbaut und diente Zaren und Generalsekretären häufig als Operationsbasis. Ihr Name bedeutet »Beherrsche den Kaukasus«, der unzutreffendste Name, den man sich vorstellen kann.
»Wir suchen nach einem Lkw mit dem Zeichen des roten Halbmonds, der einen Grippe-Impfstoff geladen hat«, sagt sie. »Die hiesige Mafia hat ihn gestohlen.«
In der Haut des Diebes möchte ich nicht stecken, wenn Valja ihn findet. »Und die Leute, mit denen du zusammen bist, arbeiten für die Wiedervereinigung der Region?«
»Ein paar von ihnen, manchmal. Ich weiß, es ist hoffnungslos. Jeder hasst jeden. Aber es kann nicht schaden, es zu versuchen.«
Ich denke gar nicht daran, mit ihr zu diskutieren. Valja weiß, wie aussichtslos das Ganze ist. Die jüngere Geschichte hat das Gebiet in Stücke gerissen. Über fünf Millionen Menschen leben über sieben autonome Republiken verstreut: Adygeja, Karatschajewo-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Nordossetien, Inguschetien, Tschetschenien und Dagestan. Jahrhundertelang gab es ein Labyrinth unzähliger Stämme, Clans und Sekten, mit Dutzenden von Sprachen und Dialekten, wandernden Grenzen und Blutfehden – einer gegen den anderen, gegen die Kosaken und gegen die Zaren. Und dann kamen sieben Jahrzehnte des eisernen Sowjetregimes: erst Lenin, der willkürlich die Landkarte gestaltete, um absichtlich Konflikte zu schüren, und danach die Deportationen in die zentralasiatische Steppe unter Stalins brutaler Politik der likvidatsia, der Liquidierung.
Als sich der Griff der Sowjetunion lockerte, implodierte die Region erneut. Die herrschenden Machtstrukturen wurden aufgehoben. Die zentral gesteuerte Wirtschaft kollabierte. Alte Fehden loderten erneut auf, Grenzen verloren ihre Bedeutung – viele wollten plötzlich wieder die alten Stammesgrenzen geltend machen – , Stämme wurden gespalten und das Kräftegleichgewicht kippte endgültig. Als wir schließlich in Tschetschenien einfielen und Grosny dem Erdboden
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