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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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sagt, jagt es mir einen Schauer über den Rücken. In einem Fall wie diesem äußert sich Valjas Sinn für Gerechtigkeit vielleicht noch radikaler als meiner.
    Ich hole den Umschlag heraus und lese ihr die Adresse vor. »Danke, Valja. Ich... Ich... Also, danke.«
    Sie lacht über mich. »Guck auf dein Handy. Ich schick dir ein Geschenk.«

25
    Kaum bin ich in den Mercedes geklettert, fährt Golko mit quietschenden Reifen los nach Wladimir, hundertachtzig Kilometer in Richtung Nordosten. Ich versuche, nicht an das Gespräch mit Valja zu denken und mich auf Melnik zu konzentrieren, den Mann, dessen Name in Dubinins Aufzeichnungen auftauchte und zugleich als Querverweis in der fehlenden Kriegsverbrechensdatei.
    »Ich habe Neuigkeiten«, bemerkt Golko.
    »Aha«, sage ich und denke immer noch an Valja.
    Meine Antwort ärgert ihn. »Wer war das am Telefon?«
    »Mein Börsenmakler. Er meint, ich würde mich zu sehr aufs Öl – und Gasgeschäft konzentrieren.«
    Er schnauft wütend aus. »Sicher. Sie haben zehn Minuten lang telefoniert und waren sowieso schon eine halbe Stunde zu spät.«
    »Mein Wecker hat nicht geklingelt. Wir müssen alle mal schlafen, Golko.«
    Vom Armaturenbrett nimmt er ein kleines blaues Licht, schaltet es an, streckt den Arm aus dem Fenster, um es aufs Dach zu stecken, und rast mit hemmungsloser Rücksichtslosigkeit über sämtliche Kreuzungen. Die Signalleuchte wird migalka genannt. Sie erlaubt es ihm, auf manchen Straßen eine Extraspur zu benutzen und auf allen anderen die Verkehrsregeln zu missachten. Migalkas sind der politischen und finanziellen Spitze Vorbehalten – Männern wie dem General und Lachek – und werden häufig auf die arroganteste Weise missbraucht, sodass Tausende von anderen, die auf denselben Straßen unterwegs sind, langsamer fahren müssen.
    »Wo wohnen Sie überhaupt?«, fragt er.
    »Ich habe eine Suite im Ararat Hyatt, bin aber die meiste Zeit auf meinem Landsitz.«
    Er kräuselt die Lippen. »Wenn Sie es mir nicht erzählen wollen, sagen Sie es einfach.«
    »Ich will es Ihnen nicht erzählen. Okay, was gibt es Neues?«
    »Ich habe den General informiert. Er sagt, er brauche mehr. Er meinte, Zitat Anfang, sagen Sie Volk, ich brauche etwas, womit ich diese Leute zu fassen kriege, Zitat Ende. Was soll das bedeuten?«
    Es bedeutet, dass Lachek oder sonst irgendjemand im Kreml ihn direkt im Visier hat, und sie ihn drankriegen wollen, für das, was in Starye Atagi passiert ist – und vielleicht noch für andere Dinge – , solange er kein Mittel findet, Druck auf sie auszuüben.
    »Ich weiß es nicht«, entgegne ich.
    Er fährt über eine rote Ampel, schneidet einem Bus den Weg ab und beschleunigt auf die M7. Als wir auf der Überholspur sind, reicht er mir mehrere handgeschriebene gelbe Seiten. »Dubinins Aufzeichnungen«, erklärt er. »Sie hatten recht, sie sind interessant. Er hat sie in einem Geheimfach in seiner Truhe aufbewahrt. Ich habe es beim ersten Mal nicht entdeckt. Wer schreibt heutzutage noch auf Papier?«
    Ich blättere durch die Seiten, einmal schnell, dann langsamer. Alle Notizen scheinen mit dem Hennen-Ei zu tun zu haben. Zusammenfassungen von Befragungen, Zitate aus Recherchequellen, sowie Einzelheiten seines eigenen Verdachts – das Ganze übersichtlich geordnet. Keine weiteren mir bekannten Namen sind darin enthalten, nur die, die wir bereits haben, einschließlich dem mehrmals umrandeten Joseph Melnik.
    »Erzählen Sie mir, worum es darin geht«, fordere ich Golko auf, interessiert zu hören, ob er die Dinge genauso sieht wie ich.
    »Die Zaren verwahrten das Hennen-Ei bis zur Revolution im St. Petersburger Anitschkow-Palast«, sagt er und schlängelt sich geschickt an mehreren Autos vorbei, die zu langsam sind, um dem Blaulicht auszuweichen. »Kerenskis provisorische Regierung beschlagnahmte es, als sie 1917 die Macht ergriff. Sie brachten es in die Rüstkammer des Kreml, aber nur wenige Jahre später war es verschwunden. Das alles ist allgemein bekannt. Der Rest ist Spekulation.«
    »Gut begründete Spekulation, wie es scheint.«
    »Vielleicht. Während des Bürgerkrieges vereinigten sich die Tschetschenen unter Scheich Uzun Hadschi in einem heiligen Krieg gegen die Weißen Truppen des Zaren. Was den Bolschewiken gut in den Kram passte. Als aber nach der Revolution Russland seine Macht wieder geltend machen wollte, gab es Ärger. Die Roten hatten Massaker, Hungersnot, Krankheiten und Dürre durchgemacht. Sie hatten nicht die Ressourcen – Männer,

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