Im Schatten des Kreml
getötet.«
»Oh, nein.«
»Weißt du, wie solche Leute funktionieren? Dass sie immer dasselbe Schema haben?«
»Ich sehe fern.«
»Okay. Semerko hat Tanja ungefähr zwei Wochen lang festgehalten, bevor er sie umgebracht hat. Niemand hatte ihn bis dahin in Verdacht, er hatte also genug Zeit und wahrscheinlich einen Ort, den er sich vorher ausgesucht und eingerichtet hat. Das bedeutet, es ist gut möglich, dass er Galina auch nicht sofort getötet hat. Bei ihr lief außerdem alles anders. Ihre Familie schlug Alarm, und die Polizei konzentrierte sich sofort auf ihn, also musste er flüchten. Vielleicht hat er sie mit in den Süden genommen.«
Mascha erwidert nichts. Ich schätze, sie überlegt, was sie Galinas Mutter erzählen soll – ob sie ihr überhaupt irgendetwas sagen soll; darum beneide ich sie nicht. Währenddessen denke ich an Semerko, der mit seinem Opfer in die Berge gegangen ist. Das erinnert mich an Valja und ihren grenzenlosen Mut, mitten unter ihren Feinden durch den Kaukasus zu wandern, auf der Suche nach dem Guten. Und schließlich schweifen meine Gedanken zu Abreg, der seine Klauen nach Norden ausstreckt und Soldaten tötet. Alles weist in dieselbe Richtung.
»Ich muss zurück in die Berge, Mascha. Schon sehr bald, glaube ich.«
Sie starrt mich an, genauso aufmerksam wie zuvor den Anhänger. Ihre Augen leuchten hellblau mit kleinen weißen Einsprengseln, die aussehen wie Sterne. »Du hast Angst.«
»Ja. Ich habe Angst.«
24
Nachdem ich mich von Mascha verabschiedet habe, laufe ich zurück zur Metro. Sturmwolken schieben sich wie drohende Fratzen ins Licht der Straßenlaternen. Im Bahnhof ist es fast heiß nach der eiskalten Moskauer Nacht. Ein Mann auf Krücken, das eine Bein so verstümmelt, dass er es hinter sich herzieht wie einen toten Hund an der Leine, torkelt über den Bahnsteig. Er hält eine umgedrehte Wollmütze in der Hand und bittet die wartenden Fahrgäste um Geld.
»Kriegsveteran«, erklärt er.
Ein vertrauter Anblick, so wie etwas, das schon immer da gewesen zu sein scheint, auch wenn man es zum ersten Mal bemerkt. Ein ungefähr fünfjähriger Junge starrt mit offenem Mund auf sein baumelndes Bein. Die Mutter flüstert leise etwas und dreht seinen Kopf weg, aber er späht weiter unter den Falten ihres Mantels hervor. »Ich habe Hunger«, sagt der Bettler. Ein dürrer Teenager, beide Augenbrauen mit einer Reihe silberner Stecker gepierct, ein weiterer an der Unterlippe, gibt ihm einen Stoß, der ihn fast umwirft.
Das Nokia vibriert.
»Oberst?«, fragt Barokov.
»Ja?«
»Ich muss Ihnen noch etwas sagen, aber nicht am Telefon.«
»Dann muss es warten.«
Die Digitalanzeige zeigt fünfzehn Sekunden, bis die nächste Bahn kommt.
»Ich habe nachgedacht«, beharrt er.
Ich sehe ihn vor mir in seinem zerknitterten Anzug, wie er in seinem engen Büro sitzt und ihm die Sorge die Stirn in fette Fleischfalten legt.
»Sie haben zehn Sekunden, dann habe ich kein Signal mehr.«
»Irgendetwas stimmte nicht gestern Abend. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir. Aber ich kann es nicht sagen, nicht am Handy.«
Die Metro kommt zischend zum Stehen. »Fünf Sekunden, Inspektor.«
»Rjasan«, flüstert er. »Ist das möglich?«
Ich beende das Gespräch und steige in den Zug. Setze mich auf eine Plastikbank, die längs des ganzen Abteils verläuft, und lehne den Kopf gegen das Fenster. Der Bettler hinkt hinter mir in den Wagen. Als er näher kommt, rutsche ich zur Seite, an eine genervte Frau heran, um ihm Platz zu machen. Es fällt ihm schwer, sich hinzusetzen, weil er sein nutzloses Bein herumschwingen und auf einem Fuß hüpfen muss, bis sein Hintern über dem Sitz schwebt und er sich niederlassen kann.
»Danke, mein Freund.« Er wischt sich mit einem schmutzigen Handschuh die Nase ab. »War ein langer Tag. Scheiße – ein langes Jahr.« Er lacht. »In letzter Zeit gibt es mehr Geld, aber weniger Mitleid.«
Der junge Rowdy, der ihn kurz zuvor geschubst hat, beäugt mich kritisch von der anderen Seite. Ich denke erst, er ist einfach neugierig, warum ich mit dem Penner rede; aber dann spreizt er die Hände vor der Brust und zieht die Schultern hoch, wie um zu sagen, Und was ist mit mir?, imitiert einen Blow-job und formt mit den Lippen fünfhundert. Fünfhundert Rubel sind etwas weniger als zwanzig Dollar.
»Wie ist das passiert?«, frage ich den Bettler.
»Hab eine Kugel in den Arsch gekriegt bei einem Einsatz in Wedeno«, erwidert er. Wedeno ist eines der
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