Im Schatten des Kreml
bedeckt – tiefe Schnitte, wie es im Bericht heißt. Grobe Flecken, blau wie Tintenkleckse, erkennt man an den Stellen, wo sie vor ihrem Tod so lange geschlagen wurde, dass sich Blutergüsse bildeten. Ein Autopsiefoto zeigt einen Bissabdruck unter der linken Brustwarze, tief genug, um durch die Haut zu dringen, und noch einen weiteren, weniger tiefen, über der Halsschlagader. Beide Bisse haben dem Gerichtsmediziner zufolge verwertbare Abdrücke hinterlassen.
Einige der Männer im Zimmer tun so, als würden sie arbeiten, während sie heimlich beobachten, wie ich den Ordner durchgehe. Ich halte die Hand gegen das blendende Licht. Nach einer Stunde steckt Barokov den Kopf aus der Tür und fragt, ob ich etwas brauche, aber ich winke ab und kämpfe mich weiter durch die Akte. Ich versuche, das Schlimmste zu überspringen, doch als ich fertig bin, hat das Bild von Tanjas blutigem Tod bereits eine untilgbare Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen.
Ich lege den Ordner beiseite und greife nach der anderen Mappe.
Galina wurde vor einer Woche als vermisst gemeldet. Ihre Mutter gab Barokov neben Informationen zu Galinas Gesundheitszustand eine Liste mit den Namen von Freunden und Verwandten, auf der auch einige Orte notiert sind, die Galina regelmäßig aufsuchte: die Schule, eine Freundin, einen Laden, der Videospiele verkauft, ein Einkaufszentrum in der Nähe. Ferner sind mehrere Fotos beigelegt, eines davon das gleiche wie das in Maschas Wohnung, auf dem Galina kokett über die Schulter lächelt. Barokov und ein anderer Polizist durchkämmten die ganze Gegend und befragten potenzielle Zeugen, sowie Verwandte, Freunde und Nachbarn. Aufgrund von Aussagen, Semerko habe »herumgehangen«, »sich komisch benommen« und »seltsame Sachen gesagt«, und der hysterischen Beschuldigung durch Galinas Mutter, Semerko habe ihr ihre Tochter »weggenommen«, fahndete Barokov nach ihm, jedoch ohne Erfolg. Am 7. Januar, vor vier Tagen also, befragte er Semerkos Mutter und Schwester und durchsuchte deren Wohnung. Genau wie bei mir behaupteten sie, nicht zu wissen, wo er sich aufhalte, allerdings ergänzte seine Mutter, er sei vielleicht in den Kaukasus gegangen. Sie erzählten Barokov außerdem, keinerlei Sachen von ihm zu haben, was erklärt, warum er nichts von der Truhe im Keller wusste.
Wenn Semerko Tanja getötet hat, wovon ich mittlerweile fast überzeugt bin, und er außerdem Galina entführt hat, was sehr wahrscheinlich ist, dann macht Galina seit einer Woche einen unvorstellbaren Albtraum durch. Es sei denn, Semerko ist auf der Flucht. Vielleicht bleibt ihr dann vorerst das Schlimmste erspart.
Ich betrachte immer noch das Foto von Tanjas misshandeltem Körper, während unter den Polizisten im Raum allmählich ein leises Murmeln angehoben hat, das ich nur am Rande registriere. Dann lege ich die Dokumente zurück in die Ordner und bringe sie in Barokovs Büro. Als ich hereinkomme, legt er gerade den Telefonhörer auf.
»Wir überprüfen noch, ob es dasselbe Seil ist«, sagt er. »Aber es sieht ganz so aus. Dieser Dreckskerl.«
»Irgendeine Idee, wo er sein könnte?«
»Richtung Süden, hat seine Mutter gesagt. Ein weites Gebiet.«
Ich überreiche ihm die Seite aus der Zeitschrift, auf dem das schneebedeckte dagestanische Bergdorf Tindi zu sehen ist. »Vielleicht hat er Galina mit auf Reisen genommen. Um als Bruder und Schwester aufzutreten oder so ähnlich.«
Barokov betrachtet das Bild und kaut dabei mit besorgtem Blick auf seiner Unterlippe. »Woher haben Sie das?«
»Von da, wo ich auch das Seil herhabe.« Ich erzähle ihm von der Truhe, ohne zu erwähnen, dass ich die Hälfte ihres Inhalts verbrannt habe. Er ruft zwei seiner Männer herein und schickt sie los, die Truhe zu holen, dann setzte er sich wieder und sieht sich weiter das Foto von dem Dorf an.
»Es ist kein Problem für ihn, dort hinzukommen. Verdammt, wahrscheinlich musste er sich nicht mal als ihr Bruder ausgeben. Manchmal fragen die einen so etwas gar nicht. Ich kann ein paar Telefonate führen, aber was soll ich im südlichen Hochland schon ausrichten? Die Gegend ist nuklear verseucht, wussten Sie das?« Als ihm einfällt, wen er vor sich hat, hebt er den Kopf. »Stimmt, ich nehme an, Sie wissen alles darüber.«
Ich werfe einen Blick auf den Umschlag, den ich von Semerkos Schwester bekommen habe, und kritzele die Adresse in Machatschkala und meine Handynummer auf Tanjas Mordakte, neben die Zeichnung von dem Teufel mit dem Dreizack, ehe ich sie über
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