Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Geste mit den Händen.
Carya glaubte, regelrecht sehen zu können, wie bei der zweiten Alternative ein schwaches Funkeln in die Augen des Jungen trat. »Du musst ja nicht sofort entscheiden«, sagte sie. »Das Wichtigste ist doch, dass du heute Nacht nicht hier bei uns herumhockst, sondern bei Suri bist. Geh zu ihr. Rede mit ihr. Sie ist doch genauso erwachsen wie du. Gemeinsam werdet ihr eine Lösung finden. Es reicht, wenn du uns morgen, wenn der Lastwagen losfährt, deine Entscheidung mitteilst. In Ordnung?«
Der Straßenjunge nickte. »Ja, gut.« Er sprang vom Sitz. Ein neuer Eifer hatte von ihm Besitz ergriffen, und irgendwie hatte Carya das Gefühl, dass er seine Entscheidung schon getroffen hatte. Reinreden würde sie ihm sicher nicht. Sie hoffte bloß, dass er sie nachher nicht bereute. »Ich bin dann mal weg«, verkündete Pitlit. »Und ihr braucht nicht auf mich zu warten. Könnte später werden.« Er grinste dreist und flitzte zur Tür. Im nächsten Moment war er verschwunden.
Carya warf Jonan einen strengen Blick zu. »Liebe oder Abenteuer? Was war das denn für eine Wahl? Glaubst du, der Zug der Ausgestoßenen in ihre neue Heimat wird ein Zuckerschlecken?«
»Nein, absolut nicht«, gab Jonan zurück. »Ich glaube nicht mal, dass unsere Reise etwas wird, das man heiter und leichtfertig als Abenteuer bezeichnen sollte. Nicht, wenn unser Leben auch nur annähernd so weitergeht, wie es in den letzten Wochen verlaufen ist. Aber ich glaube, dass Pitlit insgeheim eigentlich gerne bei uns bleiben wollte und dieses Gespräch nur gesucht hat, damit wir ihm das bestätigen. Wäre es anders, hätte er einfach gesagt: Leute, tut mir leid, ich bleibe bei Suri. Aber so sehr er dieses Mädchen mag, er ist doch nur ein dreizehnjähriger Junge. Und tief in seinem Herzen sehnt er sich eher nach einem Vater und einer Mutter als nach einer Freundin.«
»Deshalb hast du ihn vor eine Wahl gestellt, die eigentlich gar keine war – zumindest nicht, wenn man dreizehn ist und diese beiden Worte im direkten Vergleich zu hören bekommt.«
»Sozusagen«, bestätigte Jonan, und um seine Mundwinkel zuckte verräterisch ein zufriedenes Grinsen.
Carya beugte sich näher zu ihm hin. »Vater und Mutter, hm?«, sagte sie leise und mit vielsagendem Blick. »Meintest du damit uns?«
»Na ja, so ungefähr jedenfalls«, erwiderte Jonan ein wenig verlegen. »Du kannst auch ältere Geschwister sagen.«
»Nein, ich glaube, Vater und Mutter gefällt mir besser. Wären wir Geschwister, könnte ich das nicht machen.« Mit diesen Worten legte sie ihm die rechte Hand um den Hals, zog ihn zu sich heran und küsste ihn.
»Was für eine Schande das wäre«, murmelte er, bevor seine Lippen erneut mit den ihren verschmolzen.
Es war ein Kuss voller Liebe, süß und warm und innig. Und je länger er währte, desto mehr spürte Carya, wie das Verlangen in ihr aufstieg, Jonan zu umarmen, ihn an sich zu drücken, sich ihm hinzugeben, hier und jetzt. Aber sie ließ nicht zu, dass die Leidenschaft sie übermannte, sondern entzog sich ihm rechtzeitig. Für Leidenschaft war heute die falsche Nacht.
»Was ist los?«, fragte Jonan, der das auch merkte.
»Ich muss noch etwas erledigen«, antwortete Carya. »Eine Sache gibt es noch zu tun, bevor wir uns morgen auf die Reise begeben. Ich habe sie schon viel zu lange vor mir hergeschoben.« Sie erhob sich und ging zur Treppe hinüber.
»Was hast du vor?«, wollte Jonan wissen.
»Ich gehe meinen Beutel holen«, erklärte Carya. »Ich möchte Rajael beerdigen.«
Eine Viertelstunde später standen sie gemeinsam auf der Hügelkuppe oberhalb des Dorfs. Alles war still, bis auf das Zirpen der Grillen im struppigen Gras und das Rauschen der Bäume im schwachen Wind. Ein klarer Himmel spannte sich über ihnen, und Myriaden von Sternen glitzerten in opulenter Pracht. Es war eine Nacht für romantische Zweisamkeit, nicht für Beerdigungen. Aber irgendwie passte sie besser zu Rajael, als ein grauer Vormittag, an dem der Himmel aus dicken Wolken in kalten Strömen Tränen vergoss.
Carya hatte den Beutel bei sich, in dem sie das Tagebuch, den Abschiedsbrief und die anderen Habseligkeiten ihrer toten Freundin Rajael aufbewahrte. Außerdem klemmte eine schuhkartongroße Holzkiste unter ihrem Arm, die sie unter der Treppe in ihrem Gastquartier gefunden hatte. Jonan trug eine Schaufel, die er aus einem der Vorgärten hatte mitgehen lassen. Das stellte kein Problem dar. Werkzeuge wie diese nutzten die Ausgestoßenen
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