Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
verstand.
Vorsichtig legte sie einen Pfeil auf die Sehne. Dann hob sie den Bogen, zog die Sehne bis zur Wange durch und zielte. Das Reh befand sich direkt in ihrer Schussbahn. Arglos labte es sich am kühlen braunen Wasser des Tümpels.
Es war ein so hübsches Tier. Sein haselnussbraunes Fell glänzte und war ohne Makel, die auf frühere Verletzungen oder Krankheiten hingewiesen hätten. Nicht wenige Tiere, so hatte Mablo ihnen verraten, trugen Spuren von Aufenthalten in den Todeszonen. Diese durfte man nicht jagen, denn sie brachten nur noch mehr Krankheiten über die bereits vom Schicksal geschlagenen Ausgestoßenen. Aber dieses Reh wirkte jung und gesund, mit wachen Augen und anmutigen Bewegungen.
Wie kann ich ein so schönes Geschöpf töten? , fragte sich Carya. Welches Recht habe ich dazu, ihm das Leben zu nehmen?
Hatte sie das Recht, nur weil sie stärker war und in der Natur schon seit jeher der Stärkere den Schwächeren tötete? War ihr eigenes Leben mehr wert als das dieses Rehs? Und mal ganz abgesehen davon: Hing ihr eigenes Leben überhaupt vom Leben dieses Rehs ab? Oder konnte sie nicht einfach kehrtmachen und auf dem Weg nach Hause ein paar Beeren und Äpfel sammeln? Sie hatte in den letzten Tagen so viel Tod gesehen, so viele Unschuldige, die durch jene umgekommen waren, die sich für besser und stärker hielten und sich daher das Recht herausnahmen, zu morden.
Caryas Hand, die den Bogen hielt, begann zu zittern. Es mochte die Anstrengung sein, die Sehne so lange gespannt zu halten, oder eine Folge ihres inneren Haderns.
»Carya?«, fragte Jonan leise.
»Still«, flüsterte sie. Eine unnatürliche Ruhe bemächtigte sich ihrer. Die Stimme des Zweifels verstummte und wurde durch eine andere Präsenz ersetzt, die mit kühler Klarheit das Zittern ihrer Hand beendete und ihr Augenmaß schärfte. Du bist hier in der Wildnis. Schwäche kannst du dir nicht leisten. Wenn du nicht schwach werden willst, musst du Fleisch essen, gesundes Fleisch, wie das dieses Tieres. Sein Tod ist notwendig.
Bedächtig entließ sie die vor Anspannung angehaltene Luft aus ihren Lungen. Dann gab sie den Pfeil frei. Mit einem kaum hörbaren Zischen schoss er seinem Opfer entgegen und traf es direkt in den Hals.
Das Reh zuckte zusammen und gab einen erstickten Laut von sich. Blut trat in pulsierenden Stößen aus der zerschnittenen Halsschlagader. Das Tier machte noch zwei schwankende Schritte, bevor es neben dem Tümpel zusammenbrach. Binnen weniger Augenblicke war es tot.
»Ein perfekter Schuss«, staunte Mablo. Er ließ seinen eigenen Bogen sinken und nickte Jonan zu. »Komm. Wir müssen das Tier vom Wasserloch wegziehen und hier oben ausweiden. Danach bringen wir es ins Dorf. Heute Abend wird es gutes Essen geben.«
Während die Männer loseilten, um ihre Beute zu bergen, ließ Carya ihren Bogen fallen und sackte in sich zusammen. Mit großen Augen starrte sie auf den Kadaver, und ein Teil von ihr konnte nicht fassen, was sie soeben getan hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit gnadenloser Präzision getötet hatte. Doch sowohl in der Richtkammer des Tribunalpalasts als auch während des Kampfes um die Gefängniskutsche in den Straßen Arcadions oder beim Angriff der Motorradgang auf das Dorf der Ausgestoßenen, hatte sie mehr oder minder in Notwehr gehandelt, aus einer Stresssituation heraus.
Diesmal war es anders gewesen. Diesmal hatte sie völlig ruhig aus dem Hinterhalt heraus einem unschuldigen Wesen den Tod gebracht.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete Carya sich davor, was ihr neues Leben aus ihr machen könnte. Wer bin ich? , fragte sie sich unwillkürlich. Und wer werde ich sein, wenn all dies hier vorüber ist?
Kapitel 2
A ls sie mit ihrer Jagdbeute ins Dorf der Ausgestoßenen zurückkehrten, herrschte dort große Aufregung. Allerdings war nicht das prächtige Reh, das sie erlegt hatten, der Grund dafür. Irgendetwas war während ihrer Abwesenheit vorgefallen. »Was ist denn hier los?«, fragte Carya den Erstbesten, der ihnen über den Weg lief.
Der Jugendliche, dessen braune Haut von rotem Ausschlag übersät war, blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Sie haben einen Mann gefunden. Er hat das Dorf beobachtet. Es soll ein Soldat aus Arcadion sein.«
»Ein Soldat?« Carya spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Sie wechselte einen besorgten Blick mit Jonan. Wenn das stimmte, hatten sie ein Problem. Dann hatte sich der Lux Dei von
Weitere Kostenlose Bücher