Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
erinnerte.
Naomi stieg die Seitenstufen hoch, während Nopaltzin die Haupttreppe nahm. Leandra und Brenda bückten sich zu den Jaguarstatuen, bevor sie ebenfalls die Seitentreppe erklommen. Romina schien zu überlegen, ob sie die Haupt- oder die Nebentreppe nehmen sollte, denn sie trat erst zögernd zur Seite, bevor sie doch zurück zur Haupttreppe ging und nach oben stieg.
Am Eingang des Tempels standen weitere Figuren aus Stein; eine große Schlange und ein Krieger mit einem Adlerkopf, die den Tempelraum schützten. Gegenüber des Portals befanden sich eine Trommel und ein Krieger mit einem Jaguarkopf. Das Tempeldach bestand aus Stroh.
Nopaltzin betrat den Innenraum.
Leandra und Brenda blieben zögernd vor dem niedrigen Steinportal stehen. Naomi folgte Romina um die drei Seiten des Tempels herum, bis die Plattform vor der aufragenden Felswand endete. »Hast du die Jaguarfiguren gesehen?«
Romina bejahte.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was die Verbindung zu uns sein soll.« Naomi schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zurück zum Eingang.
Nopaltzin trat aus dem Tempel und sagte: »Nun kommt schon herein, bevor die Sonne untergeht und ihr nichts mehr sehen könnt.«
Naomi folgte ihm in den Tempel, durchschritt ein Portal und stand in einem kreisrunden Raum. Wand und Boden zeigten noch die gefleckte Bemalung eines Jaguarfells. Die Farbe wirkte verblichen, trotzdem vermochte Naomi das Muster noch zu erkennen. Der Raum maß etwa drei Meter und wurde durch einen kniehohen Sockel begrenzt, der entlang der Wände verlief und wie eine runde Sitzbank aus Stein wirkte. Während sich Naomi umblickte, hätte sie beinahe die Erhöhung auf dem Boden übersehen. Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete die Figur. Es handelte sich um das Relief eines Adlers mit angelegten Flügeln. Rechts und links auf dem durchgängigen Sockel unterbrachen zwei herausragende Adlerskulpturen die Fläche. Gegenüber des Eingangs starrte eine mannshohe Jaguarfigur mit wachendem Blick in den Saal.
Plötzlich fröstelte Naomi.
»Setz dich, sonst finden die anderen keinen Platz in diesem kleinen Raum.« Nopaltzin saß bereits und Naomi nahm ihm gegenüber Platz. Die Jaguarfigur ragte über ihre rechte Schulter.
Der Häuptling wartete, bis sich auch Brenda, Romina und Leandra auf den Sockel gesetzt hatten.
»Brenda wird schon aus unseren früheren Unterhaltungen einiges über die aztekische Armee wissen.« Er sah erst zu Brenda und ließ anschließend seinen Blick durch die Runde gleiten. »Wir sitzen hier, wie es damals die Elite der Adler- und Jaguarkrieger tat, wenn es darum ging, neue Krieger für die Weihe auszuwählen. Schon in jungen Jahren lehrte man auf speziellen Schulen den jungen Azteken den Umgang mit der Waffe. Bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr oblag die Erziehung der Eltern. Später lebten sie in einem Calpulli, einer staatlichen Einrichtung. Die angehenden Krieger mussten sich regelmäßig Prüfungen unterziehen, und über die besten entschieden hier die Hohepriester. Wer ausgewählt wurde, bekam in diesem Raum die rituelle und schmerzhafte Aufnahme in den Adler- oder den Jaguarorden. Mit einem Messer wurden die Totems in die Rücken der neuen Krieger geritzt. Das Totem der Adlerkrieger war die Sonne, die des Jaguarordens der Mond.«
Naomi schluckte, als sie die Verbindung zwischen Mond und Jaguar als Verbindungsstück zu ihrer eigenen Situation herstellte. Ein Panther war schließlich nichts anderes als ein schwarzer Jaguar.
»Über beide Orden wachte der Kriegsgott Huitzilopochtli, von dem ich euch vorher schon berichtet habe. Dass er sich der Nacht näher fühlte, als dem Tag zeigt schon seine bildliche Darstellung durch seinen mit Federn geschmückten Jaguarkopf. In der linken Hand trägt er einen Schild und einen Lorbeerzweig, der seine Macht und seinen Ruhm ausdrückt. In der rechten hält er einen Stab, mit dem er über seine Feinde richtet. Auch wenn beide Orden dem gleichen Gott unterstanden, so waren ihre Aufgaben doch sehr unterschiedlich. Die Adlerkrieger wurden als Spione, Späher und in Regierungsposten eingesetzt. Sie kämpften nur im Kriegsfalle. Die normale Kriegsführung war den Jaguarkriegern vorbehalten. Nur den besten Kriegern wurde die Aufnahme in die Jaguarkaste gewährt. Die Aufnahme hing nicht vom Stand ab; ob Bauernsohn oder Sohn eines Adligen, die gesellschaftliche Stellung spielte dabei keine Rolle. Nur durch mutige Kriegseinsätze konnte man in der Rangfolge aufsteigen.
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