Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
Zumindest schien er nicht mit ihnen reden zu wollen.
»Nopaltzin, wir kennen uns schon sehr lange. Du sagst, du hast darauf gewartet, dass ich wiederkomme, um Antworten auf Fragen zu finden, die ich mir bisher selbst nicht gestellt habe. Also ... hier bin ich und nun sag, was du zu sagen hast.« In Brendas Stimme schwang ein ungeduldiger und wütender Ton mit. »Naomi muss morgen Mittag wieder in Mexico City sein, um ihr Flugzeug zu erreichen. Sie kann nicht länger bleiben.« Zu Naomis Überraschung setzte Brenda leise hinterher: »Ihre Familie schwebt in großer Gefahr und sie muss zu ihr zurück, um sie zu schützen. Das musst du verstehen.« Romina musste Brenda mehr erzählt haben, als sie geahnt hatte, sonst könnte sie nichts von der Bedrohung wissen, die von Sammy ausging.
Nopaltzin schwang sich aus dem Schaukelstuhl, griff nach der Tischplatte und zog sich daran hoch. »Dann sollten wir sofort damit anfangen«, sagte er, ließ sie ohne weiteren Kommentar sitzen und verschwand im Haus.
Ichtaca hatte bisher noch keinen Ton gesagt.
»Ichtaca, verstehst du die englische Sprache?«, fragte Naomi.
Er drehte ihr den Kopf zu, schwieg aber weiterhin.
Brenda wiederholte die Frage auf Náhuatl, woraufhin Ichtaca verneinte. »Was wolltest du ihn fragen?«
»Was sein Vater jetzt vorhat, nachdem er uns einfach hier zurücklässt«, antwortete Naomi. Sie stand auf, ging auf der Holzveranda auf und ab und starrte in den Garten, als ob sie dort die Antworten auf ihre Fragen fände. Eine pink leuchtende Bougainvillea bedeckte die linke Seite der Gartenmauer, darunter blühten weiße Orchideen neben Tomatenstauden, und das gesamte Grundstück war beschattet von mehreren Zypressen und Buchen. Zwischen die Bäume gespannt, baumelte eine bunte Hängematte, in die sich Naomi am liebsten verkrochen hatte, denn sie fühlte sich ausgelaugt, müde und verwirrt.
Nopaltzin tauchte unvermittelt wieder auf. Seine vormals nackten Füße steckten in bequem aussehenden Turnschuhen und auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Cowboy-Hut. »Da die Zeit drängt, sollten wir aufbrechen. Lasst eure Sachen hier, nehmt nur eine Jacke mit. Nachts kann es sehr kalt werden.«
Die Nachmittagssonne brannte zwar nicht mehr so heiß, wie gegen Mittag, doch konnte sich Naomi kaum vorstellen, dass sie bei Einbruch der Dunkelheit frieren würde. Trotzdem kramte sie, wie Brenda, Leandra und Romina, in ihrer Reisetasche nach ihrer Jacke und zog noch ein Sweatshirt heraus, um sicherzugehen, da die leichte Jeansjacke nicht wirklich wärmte. Naomi hätte den Häuptling gerne gefragt, wohin sie gingen, aber da er sich bisher so verschlossen gezeigt hatte, verkniff sie sich die Frage.
Nopaltzin schritt voraus, und Naomi wunderte sich über den festen Gang, nachdem sich der alte Mann bisher eher umständlich aus dem Schaukelstuhl erhoben hatte. Er sagte etwas zu Ichtaca, öffnete die Tür und bog rechts ab.
»Wir werden vermutlich die ganze Nacht wegbleiben«, erklärte Brenda. »Das sagte er zumindest zu seinem Sohn.«
Naomi sah verwundert zu Leandra, der die mangelnde Begeisterung, die Nacht im Freien zu verbringen, ins Gesicht geschrieben stand. Obwohl sie gerne erfahren hätte, was Nopaltzin vorhatte, schwieg sie und folgte Romina und Brenda, die dicht hinter dem Häuptling hergingen.
Die mit steinernen Mauern eingefasste Gasse führte direkt auf die vor ihnen aufragende Hügelkette zu. Auch die Straße selbst bestand aus großen Steinen, die mit einer Sandmischung eingeebnet waren. Naomi sah sich aufmerksam um. Die flachen Häuser duckten sich an den tiefgrünen Hang und verschwanden beinahe zwischen der üppigen Natur. Irgendwo krähte ein Hahn. Ein Stück weiter befanden sich drei Kühe und vier Schweine in einem Vorgarten. Schweigend folgten sie Nopaltzin, der mal rechts, mal links abbog, bis linker Hand eine kleine Kirche vor ihnen auftauchte. Die weiß getünchte Kapelle bestand aus einem eckigen Baukörper mit einem nach oben gewölbten Dach und einem niedrigen rechteckigen Glockenturm, auf dem ein kleines Kreuz befestigt war. Das Eingangsgitter war verschlossen.
Nachdem sie einen Parkplatz überquert hatten, gingen sie an einem Platz entlang, der nach der mexikanischen Version eines Freibads aussah. Einige Bänke und Tische standen abseits eines eingelassenen Schwimmbads. Um die Besucher vor der Sonne zu schützen, waren über den Tischen palmblattgedeckte Sonnendächer auf Holzpfosten angebracht.
Der Weg führte weiter an
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