Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
jeden Sonnengott ein Zug aus dem Rauchgerät genommen werden musste. Beim letzten Zug schaffte es Naomi nicht mehr, den Hustenreiz zu unterdrücken. Ihr Körper wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt, bis ihr der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Sie beruhigte sich erst wieder, als sie den Kopf zwischen die Knie nahm und flach durch die Nase ein- und ausatmete.
Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, setzte sie sich auf und sah zu Romina, die offenbar keine Probleme mit dem Rauchen hatte.
Der komplette Innenraum war in Rauchschwaden gehüllt und Naomis Augen brannten.
Nopaltzin legte die Pfeife auf das Adlersymbol in der Mitte des Tempelraums, lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Schließt eure Augen und versucht jeden weltlichen Gedanken zu verbannen. Nur so werdet ihr offen für das Kommende sein.« Im Anschluss begann Nopaltzin ein Lied zu summen.
Schon nach kurzer Zeit hörte Naomi die Klänge der Melodie direkt in ihrem Kopf. Der Druck in ihrer Brust ließ nach und in ihrem Kopf breitete sich eine ungewohnte Leichtigkeit aus. Die anfängliche Furcht vor dem Unbekannten wich einer unbestimmten Neugierde.
Wie durch Watte vernahm sie Nopaltzins Stimme, als er begann, von den damaligen Ereignissen zu berichten. Seine Worte verschwammen mit Bildern und plötzlich tauchte vor Naomis geistigem Auge eine fremde Landschaft auf. Es fühlte sich an, als würde sie die Landschaft überfliegen, denn sie sah diese atemberaubende Stadt aus der Vogelperspektive. Umgeben von grünen Gebirgsketten, von leicht rauchenden Vulkanen, lag eine im Schachbrettmuster angelegte Stadt inmitten eines gewaltigen Sees. Die aus Tausenden von verankerten Flößen entstandene Stadt wurde durch fünf Dammstraßen zum Festland verbunden. Unterbrochen wurden die aus Erde und Stein gebauten Dämme durch bewegliche hölzerne Brücken. Einige waren für den Durchgang geöffnet, andere waren verschlossen. Eine Stadtmauer schien diese Stadt nicht zu benötigen, da sie komplett vom Wasser umschlossen war. Naomi sog die unglaublich frische Luft ein und nahm Gerüche wahr, die sie noch nie gerochen hatte. Alles roch satt und rein.
Das Zentrum der Stadt bildete ein großer Marktplatz, wo reges Treiben herrschte. Die Händler boten Federn, Lederschurze, Körbe, Kakaobohnen und Getreide an. Am Ende des Marktplatzes ragte ein Tempel in die Höhe. Etwas Prächtigeres hatte Naomi noch nie gesehen. Pyramidenförmig thronte das Gebäude über der ganzen Stadt. Breite Treppenstufen führten nach oben zu zwei Wohnhäusern, die auf der obersten Plattform erbaut waren. Die gesamte Stadt lag den beiden Wohnhäusern zu Füßen.
Die Stadt schien in vier Bezirke aufgeteilt zu sein, denn in jede Himmelsrichtung war ein etwas breiterer Wasserkanal, der die Stadt unterteilte. Ein unglaubliches Labyrinth aus Gassen und Kanälen verband die einzelnen Bezirke. Alles in dieser Stadt schien streng geordnet zu sein.
Die Gärten waren mit tropischen Blumen angelegt; Blumen und Pflanzen, die Naomi noch nie zuvor gesehen hatte. Rote, weiße, orangerote und gelbe Blütendolden hingen dick an hochgewachsenen Stauden. Naomi vermochte den süßlichen Duft der Blumen deutlich zu riechen, obwohl sie immer noch über der Stadt zu schweben schien.
Manche Gebäude ragten mehrstöckig in die Höhe und die prachtvollen Gartenanlagen waren von den Besitzern liebevoll eingezäunt worden. Andere Bauten wiederum waren nur auf Pfählen errichtet und wirkten dagegen einfach und zweckmäßig.
Naomi wusste, dass sie Tenochtitlán unter sich sah. Die Aztekenstadt, wie sie vor sechshundert Jahren ausgesehen hatte. Der Anblick verzauberte sie.
Neben dem großen Haupttempel befanden sich mehrere kleinere Tempel. Manche waren pyramidenförmig, andere hatten zwiebelförmige Dächer und weitere erinnerten an Tribünen. Aus Naomis Sicht sahen die auf den Dämmen umhereilenden Menschen aus, wie eine eifrig dahineilende Ameisenstraße.
Naomis Blick näherte sich dem Templo Mayo r, der höchsten Tempelanlage. Dort sah sie einen Azteken vor einem der beiden Wohnhäuser stehen und auf die Stadt hinabsehen. Auf seinem Kopf trug er einen beeindruckenden Federschmuck, der durch ein goldenes Stirnband zusammengehalten wurde. Bekleidet war er mit einem farbenprächtigen Umhang, der ihm lang über den Rücken fiel und vor seiner Brust befestigt war. Sonst trug er nur ein gemustertes Hüfttuch, das seine Geschlechtsteile bedeckte. Bis auf den Umhang waren seine Brust, Arme und Beine nackt,
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