Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
kommenden fünf Minuten sprach keiner ein Wort. Jeder schien das Gesehene und Erlebte verarbeiten zu müssen.
Romina starrte auf einen Punkt über Nopaltzin und schwieg.
Nopaltzin legte den Kopf schräg und rieb sich das Kinn. »Ich bin selbst überrascht, wie klar ich die Bilder sehen konnte. Niemals hätte ich damit gerechnet, in die Vergangenheit sehen zu können.«
»Die Bilder waren unglaublich und es war richtig unheimlich, trotz der fremden Sprache zu verstehen, was gesprochen wurde.« Naomi strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Warum hat Malintzin die Azteken überhaupt verraten?«, fragte Naomi. Die Rolle dieser jungen Frau ließ sie nicht los. Noch immer hatte sie ihr trauriges Gesicht vor Augen, als Hernán Cortés ihr das Kind aus den Armen genommen hatte.
»Malintzins Geschichte ist in Mexiko allen bekannt. Viele Ureinwohner hegen immer noch einen tiefen Groll gegen sie, weil die Spanier großes Leid über sie gebracht und ihr Reich zerstört haben. Doch in der heutigen Zeit wird sie von vielen als die Begründerin des mexikanischen Volkes verehrt.« Er schüttelte den Kopf. »Im Grunde war Malintzin nur ein junges und verzweifeltes Mädchen, welches von der eigenen Familie verraten wurde. Gebürtig war sie nämlich von edlem Blut, doch als ihre Mutter erneut heiratete und ihrem neuen Mann einen Sohn schenkte, sollte der Neugeborene das Erbe antreten. Malintzin musste verschwinden. Ihre Mutter hat sie an einen Sklavenhändler der Maya verkauft. Hernán Cortés geriet nach seiner Landung an der Küste Mexikos in Auseinandersetzungen mit den Maya. Die haben sich aus Angst vor den mächtigen Pferden und den bis dahin unbekannten Schusswaffen schnell unterworfen. Sie glaubten, es handle sich um Gotteskrieger. Und um die Krieger milde zu stimmen, schenkten sie Cortés Schmuck und Frauen. Darunter war auch Malintzin.«
»Ihre eigene Mutter hat sie als Sklavin verkauft?«, unterbrach Naomi seine Erzählung. »Das arme Mädchen.« Naomi mochte sich nicht vorstellen, was die junge Frau hatte alles durchmachen müssen.
Nopaltzin griff nach seiner Wasserflasche und trank sie zur Hälfte leer, bevor er sie an Naomi weitergab, die ebenfalls einen kräftigen Schluck trank. Romina lehnte ab. Sie saß bewegungslos auf ihrem Platz und sah Nopaltzin an, bis er weitererzählte.
»Es stellte sich heraus, dass Malintzin nicht nur Maya, sondern auch Náhuatl beherrschte und die Nachrichten der Abgesandten Moctezumas zu übersetzen wusste, was ihr Besitzer, einer von Cortés` Offizieren, bemerkt hatte und seinem Vorgesetzten Bericht darüber erstattete. Es dauerte nicht lange, bis Malintzin durch ihren Umgang mit den Spaniern auch die spanische Sprache sprechen konnte. Schnell entwickelte sie sich von einer Sklavin zu Hernán Cortés` Dolmetscherin und kurz darauf auch zu seiner Geliebten.« Er seufzte. »Malintzin verlor durch den Verrat ihrer Mutter die Wurzeln zu unserem Volk und versuchte, ihr Leben durch ihre eigene Geschicklichkeit selbst zum Guten zu wenden. Sie fühlte sich weder den Maya noch den Azteken verbunden. Malintzin zögerte nicht, ihr eigenes Volk zu verraten, als es für sie vorteilhaft war. Eine Entscheidung, die man irgendwie nachvollziehen kann. Die tatsächliche Schuld trifft Malintzins Mutter.«
»Was ist aus ihr geworden?«, fasste Naomi nach.
»Über ihr weiteres Leben ist nicht viel bekannt. Sie soll jung gestorben sein.«
»Der Fluch begann also erst mit ihrem Sohn Martín und nicht schon vorher. Zumindest habe ich es so verstanden.« Naomi überlegte laut. »Sagtest du nicht, ich müsse noch weiter in der Zeit zurückgehen, als bis zu Martín?«
»Ich habe mich offenbar geirrt. Der Fluch besagt eindeutig, dass nur die Nachfahren zu Seelenbegleitern werden«, antwortete Nopaltzin.
»Das spielt doch überhaupt keine Rolle mehr«, wandte Romina ein. »Was mich viel mehr interessiert, ist der Ausspruch: bis ans Ende der Zeit. Was bedeutet das in eurer Kultur? Du hast gesagt, ihr lebt heute unter der fünften Sonne. Was bedeutet das für die Zukunft? Wir man uns jemals verzeihen?« Romina verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
Nopaltzin grunzte leise. »Die Götter vergeben, wenn der Mensch vergibt.«
Romina seufzte. »Ein Feind, der mir verzeiht, wird mir kaum über den Weg laufen. Und ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich unseren Feinden selbst nie verzeihen könnte. Nicht, nachdem was sie mir und meiner Familie angetan haben. Also bleiben wir, was wir sind, bis
Weitere Kostenlose Bücher