Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
restlichen Tisch abzudecken, schenkte sich jedoch ein großes Glas Wein ein und ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Sie fühlte sich müde, als hätte sie selbst ein Schlafmittel genommen. Vermutlich hatte sie sich in den letzten Tagen so sehr verkrampft, dass nun, wo es kein zurück mehr gab, die Anspannung von ihr abfiel und sich die Müdigkeit Bahn brach.
Trotzdem raffte sie sich auf, wischte den Tisch ab und packte das restliche Geschirr in die Spülmaschine. Anschließend ging sie mit dem Glas Wein in ihr Zimmer, wo sie sich den Wecker auf morgens zwei Uhr stellte, sich hinlegte und augenblicklich einschlief.
Das Piepen ihres Handys weckte Pilar. Sofort war sie wach und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Bevor sie ihre Zimmertür öffnete, lauschte sie, ob sie Geräusche im Haus hörte.
Nichts rührte sich.
Leise drückte sie die Türklinke zu Ikers Schlafzimmer hinunter, schlüpfte hinein und sah sich um. Das Bett war unberührt. Iker schnarchte leise auf dem Sofa und der Fernseher lief ohne Ton. »Iker«, flüsterte sie und fasste ihm an die Schulter. Keine Reaktion. Er schlief tief und fest.
Geräuschlos verließ sie Ikers Zimmer, schlich die Treppenstufen nach oben und wiederholte dasselbe in Romans Schlafzimmer. Er lag in seinen Kleidern auf der Bettdecke und bewegte sich nicht. Einige Schulunterlagen lagen aufgeschlagen neben ihm. Kai lag mit geöffneten Augen in seiner Wiege und versuchte, nach dem Mobile zu greifen, welches über ihm befestigt war. Sie kitzelte ihn kurz am Bauch und er lächelte. Mit bangem Gefühl in der Magengegend nahm sie das Babyfon und kehrte zurück ins Erdgeschoss, wo sie im Dunkeln auf Sammys Anruf wartete.
Pünktlich um drei Uhr klingelte ihr Handy. Sie nahm das Gespräch nicht an, sondern stand auf, öffnete die Haustür und das Rolltor. Die Scheinwerfer des Wagens griffen wie lange Finger durch die Dunkelheit nach ihr. Ein nervöses Flattern durchlief ihren Körper.
Der Wagen stoppte vor der Eingangstür, die Motorengeräusche erstarben und die Dunkelheit umhüllte erneut das Gelände.
Die Fahrertür ging fast gleichzeitig mit der Beifahrertür auf. Pilar erschrak, als sie sah, dass Sammy nicht alleine gekommen war. Den Typen, der auf der Beifahrerseite ausstieg, hatte sie noch nie gesehen.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Wer ist das? Du hast gesagt, du würdest alleine kommen.«
Sammy lächelte kalt. »Ich habe meine Meinung eben geändert. Das ist mein Bruder und er wird mir helfen.«
»Helfen? Womit?« Bei Sammys Worten kroch es ihr eiskalt den Körper hinauf. »Du wolltest nur Kai abholen.«
»Nenn ihn nicht Kai. Was für ein scheußlicher Name!« Sammy ging nicht auf ihre Frage ein. »Ich hoffe, sie schlafen tief und fest wie seinerzeit Dornröschen.«
»Sag schon. Wobei soll er dir helfen?«, fragte Pilar erneut und nickte.
»Ach Süße, das wirst du schon sehen. Meine Pläne haben sich eben geändert.« Sammy stieg die Treppenstufen hinauf, tätschelte Pilars Wange und betrat das Haus.
Sechszehn
Das Flugzeug startete pünktlich und Naomi blickte zum Fenster hinaus. Nach dem Abheben legte sich die Maschine leicht schräg, und die unter ihr liegende Stadt wurde immer ausladender und gewaltiger, obwohl die Gebäude durch das in die Höhe steigende Flugzeug immer kleiner aussahen. Selbst die Wolkenkratzer wirkten wie Spielzeughäuser.
Das Tal breitete sich wie ein gigantisches Häusermeer unter ihr aus. Grünzonen konnte sie kaum ausmachen. Naomi dachte an die vergangene Nacht zurück, wie sie genau dieses Tal während des Rituals erlebt hatte. Auch dort hatte sie dieses von Bergen eingerahmte Tal gesehen und es war herrlich gewesen. Die in sattes Grün gebaute Aztekenstadt, deren niedrige Häuser sich problemlos in die Natur eingefügt hatten. Das Grün war nun zubetoniertem Grau gewichen und selbst der wolkenlose Himmel wirkte nicht mehr azurblau. Über der ganzen Stadt hing eine Abgasglocke, die je höher das Flugzeug stieg, den Blick auf die Stadt verschwimmen ließ, bis die Maschine die Smogschicht durchdrang. Über der grauen Glocke prangte der blaue Himmel und die Sonne schien. Darunter wirkte es, als sei alles in Nebelschwaden gehüllt. Was wäre wohl gewesen, wenn die Azteken die Spanier vertrieben hätten? Würde die Stadt immer noch so wie damals aussehen? Vermutlich nicht. Die Zivilisation und die Eroberungszüge hatten gnadenlos zugeschlagen. Naomi fühlte sich dankbar, wenigstens einen kleinen Einblick in das damalige Leben
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