Im Schatten des Pferdemondes
ungestörte Abende in ihren eigenen vier Wänden. Während sie sprach, blickte sie daher kurz in den wolkenverhangenen Himmel. Bitte nicht, flehte sie stumm. Nicht heute.
Sie hielten vor einem gepflegten Mehrfamilienhaus aus grauem Stein mit großen, weiß abgesetzten Fenstern und weißen Giebeln. Eric blickte sich um: weit und breit war weder ein Cafe noch ein Pub oder ein Restaurant zu sehen. Es war eine ruhige, beschauliche Wohngegend mit breiten, abschüssigen Straßen und viel Grün dazwischen. Elaine lächelte ihn an. »Da sind wir.«
»Aber –«
»Hier wohne ich«, sagte sie und räumte damit den letzten
Zweifel aus.
»Also zuerst eine Verschwörung, und jetzt auch noch
Entführung. Ich hätte Sie nicht für kriminell gehalten, Dr.
Mercury.«
»Sie sollten es mal ausprobieren, Dr. Gustavson. Es macht
höllisch viel Spaß. Und denken Sie nur nicht, daß die
Schrecken etwa schon ihr Ende gefunden haben. Ich werde
mein hilfloses Opfer jetzt in meine finstere Höhle schleppen
und es mit Tee und Scones abfüllen bis zum Rand. – Die
Scones sind übrigens nach Claires Rezept gebacken, ich
brauchte ja einen Vorwand für meinen Anruf, nicht wahr?« »Sie erscheinen mir auch sehr durchtrieben, Dr. Mercury.« Sie stiegen aus. Wolf hüpfte auf die Straße und erkundete
die Mitteilungen anderer Hunde am Zaun.
»Tja.« Sie lächelte spitzbübisch und tat zerknirscht. »Ich
fürchte wirklich, ich bin durchtrieben. Ja. In der Tat. Sehen
Sie der Wahrheit also lieber ins Auge, Mr. Gustavson – Sie
sind mir völlig ausgeliefert.«
»Das weiß ich schon lange.« Die Worte kamen beinah
unhörbar und sehr ernst.
Die Wolke von Übermut, die Elaine um sie zu streuen
versucht hatte, zerfiel. Betroffen blickten sie einander an. Als ihre Hände sich zufällig streiften, zuckten sie beide
zusammen und rückten instinktiv ein wenig auseinander.
Schweigend betraten sie das Haus.
Die weiße Tür im zweiten Stockwerk öffnete sich auf einen
hellen, weiten Flur, dessen Wände mit Glasmalereien
geschmückt waren. Man sah auf den ersten Blick, daß Elaine
eine geschickte Hand für die Einrichtung einer Wohnung
hatte; selbst die drehbaren Deckenfluter waren mit einer ganz
außerordentlichen Wirksamkeit plaziert, so daß sie die Ecken
bis in den kleinsten Winkel ausleuchteten und den Eindruck
von Luftigkeit noch verstärkten. »Gib mir deinen Mantel«, sagte Elaine, hängte Mantel und Schal auf einen Bügel, zog seine Handschuhe aus seiner Manteltasche und legte sie auf
ein niedriges Tischchen neben ihre eigenen.
Eric stand ein wenig verloren in ihrem Flur und streichelte
verlegen Wolf, als sein Blick auf ein gerahmtes Bild mit
einem Gedicht an der Wand fiel. Er legte die Arme auf dem
Rücken zusammen und nahm seine Zuflucht zu dem Gedicht,
las es aufmerksam, eigentlich war es kein Gedicht:
»Come to The Edge«,
He said.
They said,
»We are Afraid.«
»Come to The Edge«,
He said.
They Game.
He pushed them ...
And they flew.
Guillaume Apollinaire
Irgend etwas in ihm wurde durch diese Worte berührt, so tief und so nachhaltig, daß es hinter seinen Augen zu brennen begann. Er wandte sich um und sah, daß Elaine ihn beobachtete. »Es ist sehr ... eindringlich, nicht?« – Er nickte.
»Ich bekam es von meinem Lieblingsprofessor nach meinem Abschlußexamen geschenkt.«
»Professor Gray? Du sprachst von ihm, als wir auf den Kl..., als du bei den Hickmans warst.«
»Ja, der. Er wußte, daß ich vor Angst wegen dieses Examens halbtot war, und er hatte kurz davor ein langes gutes Gespräch mit mir. Man könnte sagen, er ... stupste mich an – weg von der Angst, wenn du weißt, was ich meine ... er hielt mir das vor Augen, was er >meine Qualitäten nannte; und das Examen verlief überraschend gut. Am darauffolgenden Tag bat er mich in sein Arbeitszimmer, bot mir eine Tasse Tee an und überreichte mir das.« Sie deutete nach dem gerahmten Zitat. »Es war so rührend ... er ist Junggeselle, weißt du; er hatte es selbst eingewickelt – in das feinste Geschenkpapier, das du dir vorstellen kannst, aber alle vier Kanten lugten daraus hervor, und es war ganz knitterig geworden. Er hatte versucht, die Schäden mit einem breiten Geschenkband zu tarnen ... als ich es ausgewickelt hatte und es las, hatte ich einen dicken Kloß in der Kehle. Manchmal, wenn ich davor stehe und mich daran erinnere, daß ich ihm zu verdanken habe, was ich heute bin, geht es mir noch heute so. Er war es, der mir den Schubs gab –«
»Der dich fliegen ließ.«
Sie nickte.
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