Im Schatten des Schloessli
Auftauchen. «Sie sind nicht der Einzige, der die Anwesenheit unseres Herrn am Kreuz nicht verkraftet. Johannes hat recht: Nur die reinen Seelen ertragen seinen Anblick. Alle andern werden von ihrer übergrossen Schuld eingeholt. Nur wer frei ist von Sünde oder aufrichtig Busse getan hat, kann in das gepeinigte Antlitz Jesu schauen, ohne am Wissen zu zerbrechen, dass er dies alles um unsertwillen durchlitten hat.» Der elektrische Rollstuhl ruckelte noch etwas näher. Wie schon in der dunklen Stube hörte Unold das leise Klappern, als die Perlen des Rosenkranzes, der unablässig durch die Finger der Alten glitt, aufeinanderprallten.
«Johannes der Täufer?», fragte Unold. Er fühlte sich unbehaglich und trat von einem Bein auf das andere.
«Mein Bruder. Leider ist er nicht hier, sonst könnten Sie ihn kennenlernen. Sie würden ihn mögen. Er könnte Sie auf den rechten Weg zurückführen.»
«Johannes? Ihr Bruder?»
Unold hatte nicht bemerkt, dass Geigy der Alten gefolgt war. Dankbar, ihren stechenden Augen nicht länger allein ausgeliefert zu sein, trat er neben seinen Chef.
«Kennen Sie ihn?» Margrit Kägi liess den Rosenkranz in ihren Schoss sinken.
«Kennen ist zu viel gesagt, aber ich habe ihn schon predigen gehört. Ich glaube, den Kollegen von der Stadtpolizei ist er besser bekannt.»
Die Veränderung, die mit der Frau im Rollstuhl vor sich ging, war frappant. Hatte Sie sich vorher noch um einen Anschein von Freundlichkeit bemüht, strahlte sie jetzt nichts als eisige Kälte aus.
«Die Polizei hatte kein Recht, Johannes in eine Anstalt zu stecken. Nur weil er den Leuten erzählt, was sie nicht hören wollen, ist er noch lange nicht verrückt. Doch Gott der Herr vergisst seine Kinder nicht.»
«Die Polizei hat nichts dergleichen getan. Das waren die Ärzte Ihres Bruders», sagte Bernhard Geigy freundlich. «Aber wir wollten mit Ihnen nicht über Johannes reden. Wir haben Sie am Fenster gesehen und dachten, Sie könnten uns vielleicht helfen.»
«Wobei?»
«Haben Sie irgendetwas beobachtet, das Ihnen seltsam erschien? Ein Fremder, der sich für die Villa Ihrer Nachbarn gegenüber interessiert hat? Ein Auto, das nicht in diese Gegend gehört? Oder hat Ihnen Herr Morton selbst etwas erzählt? Dass er Feinde hatte? Sich bedroht fühlte?»
«Mir? Etwas erzählt?» Die Alte schnaubte. «Ich sage Ihnen, was mir seltsam vorgekommen ist: die ganze Sippschaft.» Sie bekreuzigte sich hastig. «Was wollten Sie überhaupt von den Mortons? Ist etwas passiert?»
«Im Augenblick kann ich Ihnen dazu leider nichts sagen.» Geigy zögerte. «Dürfte ich kurz Ihren Computer benützen?»
«Bitte?»
«Ihren Computer.»
Die Alte kräuselte die Lippen. «Gott hört mich auch ohne Maschine.» Liebevoll umfasste sie das elfenbeinfarbene Kreuz des Rosenkranzes mit Daumen und Zeigefinger und führte es an den Mund. «Und durch mein Herz spricht er jeden Tag zu mir.»
«Darum kann ich Sie nur beneiden.» Geigy klang so ernst, dass sich Unold fragte, ob er wirklich meinte, was er sagte. «Meine Freunde sind leider irdischer Natur. In der heutigen Zeit läuft ohne Telefon oder E-Mail rein gar nichts mehr. Aber wenn Sie keinen Computer haben … Hoffentlich lässt Sie der da oben nicht im Stich.»
«Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? Der Herr ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn hofft mein Herz, und mir ist geholfen.» Als wären Unold und Geigy gar nicht da, faltete Margrit Kägi die Hände, schloss die Augen und versank in stummer Zwiesprache mit dem Gekreuzigten – jedenfalls war es das, was Unold vermutete.
«Ja dann», Bernhard Geigy räusperte sich, «entschuldigen Sie die Störung.»
«Ich bitte Sie, es ist meine Christenpflicht, der Polizei zu helfen.» Die Alte sagte es feierlich, ohne den Anflug eines Lächelns in der Stimme. «Doch allein Gott sieht alles.»
«Manchmal greift er dazu auf die Augen seiner Kinder zurück. Ich lasse Ihnen meine Karte hier, falls Ihnen doch noch etwas einfällt.»
«Die Augen des Herrn schauen an allen Orten. Er bedarf unser nicht.»
«Vielleicht hat der Herr ja mal eine Ausnahme gemacht und Sie oder auch Ihren Bruder etwas sehen lassen, was uns weiterhelfen könnte», fügte Unold hinzu.
«Das glaube ich kaum. Johannes ist nicht von dieser Welt. Er hat nur das Göttliche im Blick.»
«Auch der treuste Diener Gottes hat zwei Augen, die sehen, und zwei Ohren, die
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