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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Kahi
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der Tür, da drehte er sich nochmals um: «Und, Gilles, noch ein Wort über meine Frau und du fliegst, haben wir uns verstanden?» Dann schlug er die Tür hinter sich zu.
    * * *
    Stephan Rothpletz schenkte es sich, den Umschlag zu öffnen; er wusste auch so, was er enthielt. Als er den Brief aus dem silbernen Briefkasten vor seiner Osteopathie-Praxis klaubte, hatte er, anders als noch beim zweiten Schreiben, nicht einmal mehr mit den Mundwinkeln gezuckt. Ein flüchtiger Blick auf die krakelige Handschrift, in der sein Name auf das graue Umweltschutzcouvert gekritzelt worden war, genügte, und der Erguss landete beim Altpapier. Denn genau das würde es sein: ein Erguss, ein Wisch, ein wüstes Geschreibsel, ein unflätiges Geschmier. Wie die sieben anderen, die er bisher erhalten hatte. Und alle waren sie vom Absender persönlich bei ihm eingeworfen worden. Jedenfalls waren sie unfrankiert und ohne Poststempel. Und daran, dass ein Bote sie gebracht hatte, glaubte er nicht wirklich.
    Routinemässig warf er einen Blick in seine Praxisagenda. Wie er es im Kopf gehabt hatte, war der nächste und letzte Patient dieses Tages erst für achtzehn Uhr dreissig eingetragen. Damit blieb mehr als genug Zeit, Flora in ihrer Imbissbude zu überraschen und sich mit ihr zu versöhnen. Seit ihrem Streit vom Dienstag waren sie sich aus dem Weg gegangen. Kein Anruf, keine E-Mail, keine SMS und schon gar keine Berührung. Verdammt, sie fehlte ihm.
    Die Seite knisterte, als er sie umblätterte, um die Termine der nächsten Woche zu checken. Er versuchte gar nicht erst, das leise Zittern seiner Hand als Zeichen wachsender Erregung zu missdeuten; dazu kannte er sich zu gut. «Verschissenes Arschgesicht», zischte er und knallte die Praxisagenda zu. Abstrus, wie sie waren, nahm er die anonymen Briefe zwar nicht ernst, aber sie ärgerten ihn trotzdem. «Jetzt ist genug! Wofür zahle ich eigentlich Steuern?», platzte es aus ihm heraus. Damit stand das Programm bis zum letzten Nachmittagspatienten fest: erst Flora, dann die Polizei. Insgeheim hoffte Stephan, dass Flora ihn auf den Polizeiposten begleiten würde. Allerdings musste er ihr dazu erst einmal von den Briefen erzählen, und, was entscheidender war, sie musste ihm verzeihen. Unmöglich war das nicht, aber irgendwie glaubte er nicht daran, dass sie dies ohne Weiteres tun würde. «Stephan, du bist echt ein Vollidiot», sagte er bitter, hockte sich vor die orangefarbene Kartonschachtel, in der ursprünglich Chipstüten zum Grossverteiler gebracht worden waren und die ihm nun als Altpapiersammelbehälter diente, und durchwühlte die Papierflut nach den Klecksereien. Schliesslich konnte er nicht gut mit leeren Händen bei der Polizei erscheinen, um Anzeige zu erstatten. Hättest du nicht etwas Interesse an Floras Plänen zeigen, sie unterstützen können, malträtierte er sein Gewissen. Tatsächlich hatte er Flora nicht nur nicht unterstützt, er hatte sich über sie lustig gemacht. Und, nicht weniger schlimm, er hatte in den zwei Monaten, seit seine Freundin ihre Imbissbude führte, kein einziges Mal bei ihr vorbeigeschaut. Er verstand selbst nicht, warum. Sein Verhalten war grotesk und, aus Floras Perspektive, bestimmt unheimlich kränkend. Der aktuelle Lebensinhalt seiner Partnerin befand sich keine zwanzig Meter von seiner Wohnung, rund einhundertfünfzig Meter von seiner Praxis und einen knappen Kilometer von seinem Büro bei der «Ökosana» entfernt, und er war nie dort gewesen. Dafür hatte er, sofern es sich einrichten liess, seine Mittagspause jeweils mit einem Espresso con panna, einer Ciabatta-Caprese und einem Blueberry Muffin im «Starbucks» verbracht und Flora bei der Arbeit beobachtet. Beinahe täglich war er auch zu einem Abendkaffee dort. Möglich, dass Flora ihn bemerkt hatte. Beschwören konnte er es nicht. Gesagt hatte sie jedenfalls nie etwas. Wir müssen wirklich reden, dachte er, nicht nur wegen Veronica.
    Stephan verschloss die Tür zu seiner Praxis. Er liebte den geduckten, länglichen Bau mit seiner Fensterfront im Parterre, auch wenn er gänzlich unmodern war. Eine ehemalige Pralinenfabrik. Mit einem engen, unpraktischen, mit unebenen Pflastersteinen versehenen und gerade deshalb wunderbar malerischen Vorplatz. Baum inklusive.
    Nach wenigen Schritten war Stephan bei der Markthalle oder beim Aufgang zu seiner Wohnung, je nachdem, wonach ihm der Sinn stand: moderne Architektur oder Altstadtatmosphäre. Gleichgültig, was seine Patienten sagten, die Markthalle war

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