Im Schatten des Schloessli
Wirklichkeitsmensch: Hier ist Selbstbedienung. Wenn Sie was essen wollen, müssen Sie es sich an der Theke holen. Oder soll ich das für Sie tun?»
«Das schaffe ich allein. Ich bin schon gross.»
«Ich weiss. Und nicht nur das.» Unold sagte es ernst, ohne jede Ironie in der Stimme.
Was immer Saliha Arslan auf der Zunge gelegen hatte, sie schluckte es hinunter und schwieg. Sie beugte sich über ihre Tasche, zog den Reissverschluss auf, wühlte darin herum, zippte den Reissverschluss wieder zu. «Ich schau mal, was es gibt», sagte sie plötzlich. Schon war sie aufgestanden und zwischen den Tischchen hindurch Richtung Theke gegangen.
Wie sehr Flora es sich auch wünschte, die exotische Schönheit, die Frau, die da vorhin aus dem Nichts aufgetaucht war, zerfiel auf dem Weg zur Imbissbude nicht zu Asche. Ihr war übel. So vertraut; Unold und die Fremde wirkten so unendlich vertraut. Flora wusste genau, wie unscheinbar sie sich neben dieser Frau ausnahm. Da half auch eine Liebesbanane im Eisfach nichts. Nein, sie war nicht grazil. Auch nicht schön. Noch nicht einmal sexy. Einfach nur Durchschnitt. Bleich. Fad. Unerheblich. Nichts, nach dem ein Mann wie Unold sich umdrehen würde, wenn er eine Frau haben konnte, die aussah wie die, die eben an die Theke gelehnt die Liste mit den Snacks überflog.
Die Erkenntnis traf Flora unvorbereitet und tat weh: Vorzeigbar an ihr waren eigentlich nur ihre Augen. So gesehen war sie die geborene Burka-Trägerin.
«Ist Ihnen nicht gut?» Saliha Arslan stellte die laminierte Snackliste in den Halter neben dem Serviettenspender zurück.
«Wie?» Flora schreckte aus ihren Gedanken hoch. Als ihr klar wurde, dass sie sich mit beiden Händen an die Theke klammerte, richtete sie sich hastig auf und straffte den Rücken. «Danke der Nachfrage. Zu wenig Schlaf, das ist alles.»
Saliha Arslan lächelte wissend. «Kenne ich. Und wenn dann noch Kreislauf und Blutzuckerspiegel im Keller sind.»
«Haben Sie was gefunden?»
Saliha Arslan stutzte. «Einen Chicorée-Salat mit Orangen, Äpfeln und Nüssen bitte und einen Feigensaft», antwortete sie betont sachlich.
Flora rang sich ein Lächeln ab, das ebenso schnell wieder erlosch, wie sie es angeknipst hatte. Als sie den Salat und den Saft sieben Minuten später vor die Schwarzhaarige hinstellte, vermied sie es, Unold anzusehen. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer.
«Sie sind mir doch nicht etwa böse wegen meines Spruchs mit der Gasse?», fragte Unold.
«Gasse?», wiederholte Saliha Arslan verständnislos.
«Ich meinte Frau … Winkelried.»
Flora gab keine Antwort. Eilig ging sie zum Nebentisch und begann, das schmutzige Geschirr auf ihr Tablett zu laden.
«Wie geht es Simone Morton», hörte sie Unold fragen.
Das weiss ich doch nicht, dachte sie.
«Den Umständen entsprechend», hörte sie die Frau die Frage beantworten. «Ihre Schwester ist jetzt bei ihr. Ich bin bloss froh, dass der Täter Morton nur die Ohren eingeschnitten hat. Stellen Sie sich vor, wie schrecklich es für Simone Morton gewesen wäre, wenn man ihren Mann bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hätte.»
«Ja klar», schnappte Flora vom Nebentisch herüber, «Frau Morton findet es bestimmt klasse, dass ihr Mann noch schön aussieht. Was spielt es da für eine Rolle, dass er tot ist.» Plötzlich schrie sie erschrocken auf. Das Schmutzgeschirr klirrte, als es auf dem Asphalt zerschellte.
«Hoppla, da war wohl mein Fuss im Weg. Sie haben sich doch nicht etwa wehgetan?» Saliha Arslan sah auf Flora herab, die am Boden kauerte und sich eine Scherbe aus der Handwurzel zog.
Flora blickte abwechselnd auf den Porzellansplitter und ihre Hand. Blut rann ihr über das Handgelenk. «Im Gegensatz zu Chris Morton lebe ich wenigstens noch», sagte sie. «Und es wäre schön, wenn das noch ein Weilchen so bleiben könnte.»
«An mir soll’s nicht liegen.» Saliha Arslan lächelte sanft. Dann umfasste sie Unolds Kopf, zog ihn zu sich heran und küsste den Mann, der der Auseinandersetzung der beiden Frauen mit wachsendem Erstaunen gefolgt war, leidenschaftlich auf den Mund.
ELF
«In einem Gericht am Nordpol fragt der Staatsanwalt: ‹Angeklagter, wo waren Sie in der Nacht vom zwanzigsten November bis zum achten März?›– Der ist gut, nicht?» Norberg grinste breit.
«Ungeheuer lustig.» Iris Häuptlein fächerte sich mit einer zusammengefalteten Katastrophenschutz-Broschüre Luft zu. Die Schwüle des Tages klebte in jeder Ritze des Polizeikommandos. Bleiern und
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