Im Schatten des Teebaums - Roman
haushoch siegen. Wenn er doch nur diesen Ehrgeiz hätte! Henrietta hatte allerdings nicht erwartet, dass Richards Freunde ihm Gerüchte über Clive zutrugen. »W arum hast du das noch nie erwähnt?«, fragte sie schließlich.
»Hättest du mich verlassen wollen, hättest du es mir schon gesagt, da bin ich sicher.«
»Für mich kam unsere Familie stets an oberster Stelle, vor allem die Mädchen«, erwiderte sie.
»W enn es die Mädchen sind, die dich von einer Trennung abgehalten haben – sie sind jetzt erwachsen. Das heißt, du kannst endlich tun und lassen, was du willst.«
Henrietta wurde flau im Magen. Wollte er sie wegwerfen wie ein altes Paar Schuhe? »Ich habe deinen Ruf immer über meine eigenen Gefühle gestellt, Richard. Dafür solltest du dankbar sein.«
» Deinen Ruf, meinst du wohl, Henrietta. Wir wissen doch beide, dass du es nicht verkraften kannst, wenn die Leute über dich tratschen. Was ich gerade gesagt habe, war wohl ein Schock für dich?«
Seine Worte trafen einen wunden Punkt, und Henrietta errötete. Wieder einmal erkannten beide, dass sie im Grunde wie zwei Fremde waren, die unter ein und demselben Dach lebten. »Clive ist mir stets ein guter Freund gewesen«, sagte Henrietta. »Er hat mir immer zugehört, was ich von dir nicht behaupten kann«, fügte sie verbittert hinzu.
»W enn du Clive so gern hast, warum hast du ihn dann nicht geheiratet? Ich weiß, dass er dich immer schon geliebt hat.« Richard konnte kaum glauben, was er sagte. Aber nach all den Jahren sprachen sie beide endlich die Wahrheit. Es war, als würde eine schwere Last von ihm abfallen, und er war seltsam gefasst.
Doch seine unverblümten Worte hatten auf Henrietta eine ganz andere Wirkung. » Du warst derjenige, dem ich mein Herz geschenkt habe«, sagte sie, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Aber du hast meine Gefühle nie erwidert.«
Richard scharrte unbehaglich mit den Füßen. Er war Henrietta stets dankbar gewesen für den Trost, den sie ihm gespendet hatte, nachdem Matilda ihn verlassen hatte. Aber Dankbarkeit war keine Liebe. Es war töricht von ihm gewesen, so zu tun, als wenn es so wäre. »Ich habe mein Bestes getan, um dich glücklich zu machen, Henrietta.«
Das konnte sie nicht leugnen. Richard hatte ihr fast alles gegeben, was sie wollte – nur nicht das eine, wonach sie sich am meisten gesehnt hatte: sein Herz.
Richard trat auf sie zu. »Eines habe ich im Laufe der Jahre gelernt, Henrietta. Man darf nicht von jemand anders erwarten, dass er einen glücklich macht«, sagte er. »Zufriedenheit mit sich selbst und mit dem eigenen Leben muss von innen kommen.«
Henrietta wusste, dass er recht hatte. Ihre eigenen Schuldgefühle hatten sie davon abgehalten, glücklich zu sein. »Als deine Ehefrau wollte ich immer nur deine einzig wahre Liebe sein«, flüsterte sie.
Richard antwortete nicht. Er konnte es nicht. Matilda war seine einzig wahre Liebe gewesen und würde es immer bleiben.
»W enn du das Gefühl hast, deine besten Jahre mit mir vergeudet zu haben, dann tut es mir leid, Henrietta. Wir haben zwei Töchter, auf die wir stolz sein können, und wir hatten ein gutes Leben.«
»So wie du es sagst, hört es sich an, als wäre es mit uns zweien vorbei …«, flüsterte Henrietta heiser.
»Ich nehme an, so ist es auch. Zumindest mit dem falschen Schein hat es ein Ende. Du hättest ein Leben mit dem Mann führen sollen, der dich wirklich liebt, und ich hätte niemals zulassen dürfen, dass Matilda sich nach ihrem Unfall völlig aus dem Leben zurückzieht. Im Nachhinein ist man immer klüger. Leider können wir die Uhr nicht zurückdrehen, und Reue bringt uns auch nichts. Wir haben einen anderen Weg gewählt, aber wir sollten nicht länger so tun, als wäre es der richtige Weg gewesen.«
Richard spürte, dass Henrietta schockiert war von seinen freimütigen Worten. Aber eines Tages musste er ihr seine Gefühle erklären, und dieser Tag war nun gekommen.
Richard beschloss, Henrietta allein zu lassen und sich zurückzuziehen, damit sie beide über die neue Situation nachdenken konnten. Er wandte sich langsam ab und verließ das Haus.
Henrietta ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie fühlte sich innerlich leer. Zum ersten Mal sah sie wirklich klar, und ein seltsames Gefühl der Trauer erfüllte sie. Durch ihr Verhalten in den vergangenen Jahren hatte sie es drei Menschen vorenthalten, wahres Glück zu empfinden.
Die eigentliche Tragödie aber war, dass Henrietta dabei sich selbst am
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