Im Schatten des Teebaums - Roman
unversucht, Henrietta zu überreden, ihn zu begleiten, doch irgendetwas hielt sie zurück.
Clive gab ihr ein paar Tage Zeit, darüber nachzudenken. Ihre Unentschlossenheit und der Druck, eine Entscheidung treffen zu müssen, hatten Henrietta in eine gereizte Stimmung versetzt. Nun rechnete sie damit, in dem Telegramm lesen zu müssen, dass Clive die Geduld verloren hatte und ohne sie abgereist war, doch zu ihrem Erstaunen ging es darum, dass Katie noch zwei weitere Nächte in Tantanoola verbringen würde.
»Henrietta?«, rief Richard, als er von den Ställen zur Hintertür hereinkam. »Habe ich da eben den Telegrammjungen die Auffahrt hochlaufen sehen?« Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, denn er vermutete, dass es sich um Neuigkeiten über Matilda handelte und dass eines der beiden Mädchen das Telegramm geschickt hatte.
Henrietta runzelte die Stirn, als sie den Funken Hoffnung in Richards Augen sah, worauf sofort der Verdacht in ihr aufkeimte, dass ihre Schwester Matilda der Grund dafür war. »Es ist ein Telegramm von unserer jüngeren Tochter«, sagte Henrietta. »Offenbar wird sie erst übermorgen nach Hause kommen.«
Richard brachte die Worte kaum über die Lippen, die ihm durch den Kopf gingen: »Schreibt sie warum …?«
»Nein. Sie hat überhaupt keinen Grund genannt. Ich denke, du solltest hinfahren und sie holen. Wenn du es nicht tust, fahre ich.«
»Aber wieso denn? Katie schreibt doch, dass sie in ein paar Tagen nach Hause kommt. Offenbar ist alles in Ordnung, sonst hätte sie es uns doch gesagt.«
»Sie sollte überhaupt nicht dort sein! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie in dieser einschläfernden Kleinstadt hält. Außerdem hätte sie schon gestern früh wieder in Miss Beatrice’ Geschäft zur Arbeit erscheinen sollen. Ich werde Beatrice wohl aufsuchen und die Wogen glätten müssen. Katie könnte sich nicht beklagen, sollte ihr gekündigt werden.«
»Das ist doch Unsinn, Henrietta. Du weißt, dass Beatrice begeistert von Katie ist. Sie würde ihr nie kündigen, nur weil sie sich noch ein paar Tage frei nimmt.«
»Aber nur weil sie weiß, dass ich in dieser Stadt Einfluss habe.«
Richard verdrehte die Augen und wandte sich zum Gehen, was Henrietta nur noch mehr in Rage versetzte.
»Du glaubst, alle lieben dich, was?«, sagte sie gehässig. »Dann lass dir von mir sagen, nicht alle sind angetan vom großen Richard Dickens.« Sie wartete gespannt auf seine Reaktion.
Die meisten Leute gingen davon aus, dass Richard von der Freundschaft seiner Frau mit Clive Jenkins nichts wusste, aber das stimmte nicht. Schon vor seiner Heirat mit Henrietta war Richard klar gewesen, dass Clive in sie verliebt war, und als dann ihre Mädchen geboren waren, wusste er, dass Henrietta sie niemals verlassen würde.
»Falls du von Clive Jenkins sprichst«, sagte Richard, »so bin ich mir seiner Gefühle für mich durchaus bewusst, und ich weiß auch, dass diese Gefühle leidenschaftlich erwidert werden.« Richard mochte Clive Jenkins nicht, doch seine Abneigung hatte nichts mit Henrietta zu tun. Er hielt Jenkins für einen doppelzüngigen Geschäftsmann. Ihre Wege kreuzten sich glücklicherweise selten, und wenn, war ihr Umgang bestenfalls höflich, doch Richard hatte Freunde, die das Nachsehen gehabt hatten, als sie ihr Vieh auf Jenkins ’ Auktionshöfen verkauften.
Henrietta war verdutzt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Richard Clive zur Sprache bringen würde. »W as soll das denn heißen?«
»Dass ich nicht viel für ihn übrig habe.«
Henrietta war einen Augenblick völlig verwirrt. »W as hast du denn gegen Clive?«, stieß sie schließlich hervor. Richard verlor selten ein schlechtes Wort über andere Leute, und schon gar nicht über einen solch angesehenen Mann wie Clive.
»Ganz abgesehen von seinen fragwürdigen Geschäftspraktiken, Henrietta, hat dieser Mann seit Jahren über mich hergezogen. Ich weiß, dass er mich ebenso wenig ausstehen kann wie ich ihn.«
Henrietta wollte es abstreiten, doch Richard schien sich dieser Information sehr sicher zu sein.
Richard konnte an ihrer Miene ablesen, dass sie nur zu gern erfahren wollte, woher er wusste, was Clive von ihm hielt. »W ie du weißt, habe ich viele Freunde in dieser Stadt, daher gibt es nicht viel, worüber ich nicht Bescheid weiß.«
Henrietta war bestürzt und gedemütigt zugleich. Natürlich war ihr bewusst, wie viele Leute Richard bewunderten. Würde er für das Amt des Bürgermeisters kandidieren, würde er
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