Im Schatten des Teebaums - Roman
schaute dort nach, doch es fehlte jede Spur von ihm; nur Sheba war noch im Haus. Als Tilly in den Ställen nachsah, in der Annahme, dass Noah vielleicht seinen Esel striegelte, war dieser ebenfalls verschwunden. Sie konnte es nicht glauben. Ihr Mut sank, und sie brach in Tränen aus. Sie wusste, dass Noah keine Chance hatte, wenn die Männer aus der Stadt ihn finden sollten. Sie konnte nicht begreifen, warum Noah ausgerechnet jetzt gegangen war, wo Eliza und George so kurz davor standen, ihr Ziel zu erreichen.
Tilly ging zurück zum Haus und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »W enn Brodie doch nur hier wäre«, rief sie verzweifelt in die unheimliche Stille des Hauses. »Er würde wissen, was zu tun ist.« Er hätte inzwischen genug Zeit gehabt, nach Mount Gambier und zurück zum Hanging Rocks Inn zu kommen.
Wenig später hörte Tilly das Knirschen von Rädern auf den Steinen in der Auffahrt. Ihr erster Gedanke war: Brodie ist zurück! Sie eilte hinaus, um wie angewurzelt stehen zu bleiben, als sie sich einem gut gekleideten Fremden in einem eleganten Wagen gegenübersah.
»Guten Tag, Madam. Ich bin auf der Suche nach Miss Tilly Sheehan«, sagte der Mann.
Tilly blickte ihn verwirrt an und schwieg.
»Sind Sie Miss Sheehan?«, fragte der Mann geduldig. »Das hier ist doch das Hanging Rocks Inn, oder?«
»W er … wer will das wissen?«, fragte Tilly, während sie verzweifelt versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Alle möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
»V erzeihen Sie, ich hätte mich vorstellen sollen. Mein Name ist Bob Hanson.«
Der Name kam Tilly irgendwie bekannt vor, doch sie war in Gedanken noch immer bei Noah. »Ich bin Tilly Sheehan. Was kann ich für Sie tun, Mr. Hanson?«, sagte sie kurz angebunden. Sie war nicht in der Stimmung für Smalltalk.
»Ich würde mit Ihnen gern über Noah Rigby sprechen.«
Tilly erschrak. Hatte alle Welt es auf Noah abgesehen? »W as ist mit ihm?«
Bob stieg vom Wagen. Als er sich Tilly näherte, konnte er sehen, dass sie geweint hatte. Er erhaschte einen Blick auf ihre schrecklichen Narben, als eine Brise durch ihr Haar fuhr. Obwohl er gern wissen wollte, was mit ihr passiert war, untersagte ihm der Anstand, sie danach zu fragen. »W as ist denn, Miss Sheehan?«
»Nichts.«
Bobs Züge nahmen einen sanfteren Ausdruck an. »V ielleicht kann ich helfen«, sagte er.
»Das bezweifle ich«, gab Tilly kläglich zurück.
»Man kann nie wissen«, entgegnete Bob mit selbstbewusstem, freundlichem Auftreten. Tillys Neugier war geweckt.
»Bitte kommen Sie ins Haus«, sagte sie. Sie wusste nicht warum, aber sie spürte, dass Bob Hanson nicht da war, um Noah Ärger zu machen.
In der Stadt schossen Eliza und George mit großem Getue Fotos vom Bahnhof und der Fracht, die Neddy Starkeys Assistent auf Georges Bitte hin auf dem Bahnsteig aufgebaut hatte. Sie hofften, eine Menschenmenge um sich zu versammeln, und so kam es auch: Der Rummel hatte das Interesse der Stadtbewohner erregt, die nun zusammenströmten, um ihnen zuzuschauen, denn in der verschlafenen Kleinstadt Tantanoola gab es nicht jeden Tag etwas Aufregendes zu sehen.
Eliza wunderte sich nicht, Myra Ferris unter den Schaulustigen zu sehen, aber auch Sarah Hargraves war da und Mary Corcoran und viele der einheimischen Männer, darunter Mick Brown. Mannie Boyd hingegen konnte sie nirgends entdecken, und das beunruhigte sie. Sie befürchtete, er könne wieder mit den Fährtenlesern in der Gegend um das Hanging Rocks Inn unterwegs sein, doch sie war zuversichtlich, dass Tilly Noah gut versteckt hielt. Und die Männer würden das Hanging Rocks Inn und die Höhlen sicher nicht noch einmal durchsuchen. Es war pures Glück gewesen, dass der Wolf nicht in den Höhlen gewesen war, als die Männer sie durchsucht hatten, und dass Noah aus dem Haus verschwinden und in den Regenwassertank klettern konnte, ohne gesehen zu werden. Ein zweites Mal würden sie wohl nicht so viel Glück haben.
Um sich von ihren Sorgen abzulenken, zwang sich Eliza zur Konzentration. »W ir haben eine Theorie, wie der Schafdieb die Felle aus der Stadt schafft, ohne ertappt zu werden«, sagte sie so laut zu Neddy, dass alle anderen es ebenfalls hörten. Ihr entging nicht, wie manchem Zuschauer der Atem stockte.
»W as soll das denn heißen?«, fragte Fred Cameron, der inmitten der Zuschauer stand. »Der Schafdieb ist doch Noah Rigby!«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Eliza. »W ir haben einen Beweis für Noahs Unschuld.«
»W as
Weitere Kostenlose Bücher