Im Schatten des Teebaums - Roman
in dieser Stadt, als wir uns damals hier niederließen«, sagte sie stolz.
Eliza erkannte sofort, was für eine einmalige Gelegenheit sich ihr bot. Sarah Hargraves kannte nicht nur die Geschichte der Stadt, sie wusste wahrscheinlich auch alles über ihre Einwohner. Vielleicht hatte sie sogar den berühmten Tiger gesehen.
»Nehmen Sie auch an der Versammlung im Hotel teil?«, fragte Sarah.
»Ich wusste gar nicht, dass eine stattfindet. Worum geht es denn?«
»Die Farmer treffen sich jeden Freitagabend auf einen Drink und ein Schwätzchen, aber heute ist das Ganze ein bisschen förmlicher, weil sie über den Tiger und ihre Verluste an Vieh reden wollen, die auf sein Konto gehen. Das dürfte Sie auch interessieren. Sie sind doch wegen des Tigers hier, nicht wahr?«
»Ja. Ich würde zu gern an der Versammlung teilnehmen«, sagte Eliza aufgeregt. »Glauben Sie, die Farmer hätten etwas dagegen?«
»Selbst wenn – die Bar ist allen zugänglich.« Sarah blickte Eliza prüfend an. »Aber Sie sind noch sehr jung. Alkohol dürfen Sie bestimmt noch nicht trinken, oder?«
»Das stimmt.«
»Ich bin dreiundneunzig, Kindchen, viel zu alt zum Trinken! Aber an Regeln habe ich mich noch nie gehalten. Ich sag Ihnen was: Ich werde Sie begleiten, und dann werde ich zwei Drinks bestellen, einen für Sie und einen für mich. Ich werde beide vor mich hinstellen, und wenn niemand guckt, dann nehmen Sie einen ordentlichen Schluck. Sie sehen aus, als könnten Sie etwas zur Beruhigung vertragen.« Sie zwinkerte Eliza zu, und gemeinsam gingen sie zum Hotel hinüber.
»Haben Sie den Tiger jemals gesehen, Sarah?«, fragte Eliza gespannt.
»Und ob! Aber darüber reden wir später.«
Eliza jubelte innerlich. Nun würde sie doch noch Exklusivmaterial für ihren Artikel bekommen!
Die Stute Nell, die den halben Wassertrog ausgetrunken und sich inzwischen wieder erholt hatte, wartete brav vor dem Hotel. Neben ihr war Angus angebunden, Brodie Chandlers Hengst. Eliza bekam sofort Herzklopfen. Sarah hatte recht: Sie konnte einen Drink gebrauchen.
Richard Dickens stand in der Commercial Street East in Mount Gambier und betrachtete gedankenverloren das Zeitungsgebäude der Border Watch auf der anderen Straßenseite. Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz vor fünf, und wenn er zu George Kennedy wollte, musste er sich beeilen. Er und George kannten sich seit vielen Jahren. Während ihrer Schulzeit waren sie im Sport und im Unterricht Konkurrenten gewesen, manches Mal auch Rivalen, wenn es um die Gunst eines schönen Mädchens ging. Sie waren keine engen Freunde, aber gute alte Bekannte.
Wäre Richard ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er zugeben müssen, dass sein Weg ihn nicht zufällig in die Commercial Street East geführt hatte. Seit Eliza nach Tantanoola gefahren war, musste er unentwegt an Matilda denken. Er konnte nicht mehr schlafen, hatte keinen Appetit mehr und erfand ständig Ausreden, in die Stadt zu fahren, weil er hoffte, George zu begegnen. Er stand jetzt schon zum dritten Mal vor dem Zeitungsgebäude, aber dieses Mal überwand er sich und ging hinein.
Richard war sich ziemlich sicher, dass Eliza mit Matilda zusammentreffen würde, schließlich war Tantanoola nur eine kleine Stadt. Er vermochte seine Neugier keine Sekunde länger zu zügeln.
»Guten Tag, Miss Hudson«, grüßte er Georges blonde Empfangsdame. Bevor er alles aufgegeben und Farmer und Pferdezüchter aus Leidenschaft geworden war, hatte Richard eine Reihe kleinerer Geschäfte betrieben, zu denen auch zwei Mietställe gehörten. Bethany Hudsons Vater hatte viele Jahre als Hufschmied für ihn gearbeitet. »Ist Mr. Kennedy in seinem Büro?«
»Guten Tag, Mr. Dickens.« Bethany war bis hin zu ihren tadellos sitzenden Löckchen eine gepflegte Erscheinung, und sie bemühte sich um eine kultivierte Stimme. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, ihre Herkunft ließ sich nicht verleugnen. »Ja, ich werde ihm gleich sagen, dass Sie da sind.«
Bethany erhob sich von ihrem Schreibtisch, aber da die Tür zu Georges Büro offen stand, hatte dieser den Besucher schon gehört und forderte ihn auf einzutreten.
Schmollend, weil sie daran gehindert wurde, die Rolle der perfekten Empfangsdame zu spielen, setzte Bethany sich wieder an ihre Remington-Schreibmaschine.
»W as führt dich in die Stadt, Richard?«, fragte George und deutete auf den Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtischs.
Richard schloss die Tür hinter sich. »Ich war zufällig in der Nähe«, schwindelte
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