Im Schatten des Teebaums - Roman
Feiertagsstimmung.«
»Ja. Die Leute kommen aus dem ganzen Umland. Übrigens habe ich heute jemanden wiedergetroffen, den ich nicht mehr gesehen habe, seit ich in Elizas Alter war«, sagte Tilly.
»W en denn?«
»George Kennedy. Er ist jetzt Elizas Chef. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er noch ein junger Reporter.«
»Er ist Chef der Border Watch? «
»Ja. Wir kennen uns seit der Schule. Seitdem ist sehr viel Zeit vergangen.« Tilly blickte einen Augenblick lang traurig ins Leere. »Aber es war wunderbar, ihn wiedergesehen zu haben.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte, was George über sich erzählt hatte und worüber sie hatte lachen müssen. Als Junge war er in ihrer Nähe eher schüchtern gewesen, und nun war er ihr als selbstbewusster, aufrichtiger Mann begegnet.
»In der Schule war er immer sehr nett zu mir«, erzählte Tilly, während sie in Erinnerungen an jene unbeschwerten Tage vertieft war. Sie schmunzelte, als ihr etwas einfiel, das sie beinahe vergessen hatte: George hatte ihr nach der Schule einmal einen Blumenstrauß überreicht. Er hatte damit gewartet, bis er glaubte, alle seine Freunde seien nach Hause gegangen. Offensichtlich hatte George die Blumen den ganzen Tag unter seiner Jacke oder in seiner Schultasche versteckt, denn sie sahen ziemlich traurig und verwelkt aus, doch für Tilly war es eine rührende und liebenswerte Geste gewesen. Sie hatte sich überschwänglich bei ihm bedankt. In genau diesem Augenblick waren Georges Freunde wiedergekommen und hatten sich gnadenlos über ihn lustig gemacht, sogar noch wochenlang danach. Tilly war ohnehin in Richard verliebt gewesen und hatte George schon bald vergessen. Richard war weltgewandt und selbstsicher gewesen, sodass keiner seiner Freunde es gewagt hatte, ihn zu verspotten. Er wurde von allen akzeptiert. Er war der geborene Anführer.
»Ich bin sicher, viele junge Männer waren auf der Schule nett zu Ihnen, Matilda«, sagte Brodie lächelnd.
»Ich kann nicht klagen«, erwiderte Tilly. »Jedenfalls freut es mich, dass ich George getroffen habe und dass Eliza für ihn arbeitet. Eliza ist mir sehr ähnlich. Sie ist ein bisschen ernster, aber ebenso willensstark.«
»W ie kommt es eigentlich, dass Sie und Eliza sich jetzt erst begegnet sind?«, fragte Brodie.
Tillys Miene wurde ernst. »Seit Eliza geboren wurde, habe ich von meiner Familie niemanden mehr gesehen. Selbst Eliza ist mir nur zufällig begegnet. Offenbar wollte sie sich im Hotel ein Zimmer nehmen. Mary Corcoran hatte nichts mehr frei und schickte sie zum Hanging Rocks Inn. Erst als Eliza mir ihren Namen nannte, wusste ich, dass sie meine Nichte ist.« Tilly verschwieg, dass sie selbst den Mädchennamen ihrer Mutter benutzte, denn sie nahm an, dass das erst recht Brodies Neugier wecken würde und dann noch mehr Fragen folgten. »Aber ich bin froh, dass ich sie kennen gelernt habe. Sie ist ein entzückendes Mädchen.«
Brodie gab keinen Kommentar ab. Er fand Eliza sehr attraktiv, aber sie hatten unterschiedliche Ansichten. Er wusste nicht einmal, was er wirklich für Eliza empfand.
»Heute ist Elizas Schwester in die Stadt gekommen. Sie wird ein oder zwei Tage bei uns wohnen«, riss Tilly ihn aus seinen Gedanken.
Brodies Augen weiteten sich. »Na, wenn das kein Zufall ist! Erst treffen Sie die eine Nichte, und dann auch noch die andere.«
»Ja«, sagte Tilly. »Ich habe sie heute kurz gesehen. Sie ist ganz anders als Eliza. Katie kommt eher auf ihre Mutter, meine Schwester Henrietta.«
Brodie fiel auf, dass ihre Stimme mit einem Mal kalt geworden war.
»Und Eliza?«, fragte er vorsichtig.
»Eliza ähnelt eher ihrem Vater«, fuhr Tilly fort. »Richard war ein warmherziger und fürsorglicher Mann, aber Henrietta …« Ihre Stimme verlor sich, als sie daran dachte, wie Henrietta sein freundliches Wesen ausgenutzt haben musste. Selbst nach all den Jahren brachte allein der Gedanke daran Tillys Blut in Wallung.
»Sie verstehen sich offenbar nicht gut mit Ihrer Schwester …«, sagte Brodie abermals vorsichtig, ihre Reaktion genau beobachtend.
»Ich will sie in meinem ganzen Leben nicht wiedersehen!«, rief Tilly mit Nachdruck aus. »Und ich will auch nicht über sie reden.«
Brodie verstand und schwieg.
Ein Stück weiter die Straße hinunter hörte Tilly plötzlich einen Zug kommen. Entsetzen erfasste sie.
»W as ist los?«, fragte Brodie.
»Nell hasst Züge! Sie könnte durchgehen!« Tilly wollte vom Kutschbock springen, doch Brodie hielt sie am
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