Im Schatten des Teebaums - Roman
Arm fest.
»Keine Angst. Ich habe Nell im Griff«, sagte er ruhig.
»Aber wenn die Lokomotive pfeift …«
»Keine Angst«, sagte Brodie zuversichtlich ein zweites Mal. »Bleiben Sie einfach, wo Sie sind.« Er ließ Tilly los und nahm die Zügel fester in die Hand.
Tilly beobachtete mit angehaltenem Atem, wie der Zug näher kam. Sie sah schon vor sich, wie Nell durchging, wie der Wagen umkippte und auf sie stürzte …
Sie schloss die Augen, starr vor Entsetzen, während Brodie mit besänftigender Stimme auf das Pferd einredete. Als der Zug auf einer Höhe mit ihnen war und über die Schienen donnerte, hielt Brodie die Zügel straff gespannt.
Tilly seufzte vor Erleichterung, als der Zug vorbei war. Und sie war Brodie unendlich dankbar für sein Verständnis. Sie spürte, dass er sie nicht verurteilte, sondern ihre Ängste akzeptierte, ohne sie für dumm oder hysterisch zu halten. Tilly fand nicht die Worte, ihm zu sagen, wie gerührt sie war. Aber das war auch gar nicht nötig; das spürte sie.
Bald darauf lenkte Brodie den Wagen in die Auffahrt. Sheba lief auf sie zu, um sie zu begrüßen, und rannte kläffend neben dem Wagen her.
»Danke, dass Sie den Wagen gefahren haben, Brodie«, sagte Tilly, während er ihr hinunterhalf und Sheba sie fröhlich willkommen hieß.
Brodie lächelte. »Keine Ursache. Wenn Sie ihn wieder brauchen, solange ich hier bin, werde ich ihn jederzeit gern für Sie fahren.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen«, erwiderte Tilly, während sie in seine dunklen Augen schaute. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Brodie erbot sich, die Hühner zurück in ihr Gehege zu bringen, und Tilly brachte die schon prämierten Erzeugnisse ins Haus. Als sie in die Küche kam, sah sie zu ihrem Erstaunen George Kennedy mit Eliza am Küchentisch sitzen.
»Hallo, Matilda«, grüßte George sie verlegen.
»George! Was tust du denn hier?«, fragte Tilly, noch immer etwas durcheinander von der Fahrt. Sie sah Eliza um eine Erklärung bittend an.
»Mr. Corcoran hat Mr. Kennedy zu uns geschickt«, erklärte Eliza. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass Tilly schon wieder in Verlegenheit gebracht wurde. »Er hat für die Nacht ein Zimmer gesucht.«
»V erstehe«, erwiderte Tilly, die nicht wusste, was sie von der ganzen Sache halten sollte.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte George, dem Tillys Unsicherheit nicht entging. »Aber ich wollte ein paar Worte mit Eliza reden und konnte sie in der Stadt nirgends finden.«
»Ist … schon gut«, sagte Tilly nervös. Obwohl sie sich aufrichtig gefreut hatte, George in der Stadt zu treffen, war sie verlegen, ihn jetzt wiederzusehen. »T ja, dann bis nachher …« Sie stellte ihr Obst und Gemüse auf dem Küchentresen ab und ging hinaus, um ihre Hühner und Ziegen zu füttern.
»Ich glaube, ich hätte nicht herkommen sollen«, sagte George zu Eliza. Er stand auf und folgte Tilly nach draußen, um die Situation zu klären. »T ut mir leid, dass ich dich überfallen habe, Matilda«, sagte er, als er nach ein paar raschen Schritten zu ihr aufgeschlossen hatte. »Ich fahre noch heute Abend zurück nach Mount Gambier.«
»Und wie?« Tilly blickte ihn an. »Du hast den letzten Zug verpasst.«
»T atsächlich?« Das hatte George gar nicht bedacht.
»Ja, tatsächlich. Und ich bezweifle, dass jemand im Dunkeln mit einer Kutsche oder einem Buggy zurückfahren wird.« Die Sonne ging schon unter.
»T ut mir leid, Matilda. Das hatte ich gar nicht bedacht. Ich wolle dir wirklich nicht zur Last fallen.«
»Du fällst mir nicht zur Last, George. Ich nehme an, du weißt, dass Elizas Schwester Katie auch hier ist? Wahrscheinlich hat sie das größere der beiden Zimmer genommen, die ich noch zu vergeben hatte. Aber wenn du gegen ein kleines Zimmer nichts einzuwenden hast, kannst du es gern nehmen. Ich brauche jetzt erst einmal ein Bad, deshalb wird es mit dem Abendessen heute ein bisschen später als sonst. Es gibt Kürbissuppe mit frischem Brot. Ich hoffe, das genügt dir?«
George konnte sehen, dass Tilly von dem langen Tag erschöpft war. »Kürbissuppe ist meine Spezialität«, sagte er. »W ie wär ’ s, wenn ich sie koche?«
Tilly hob verdutzt den Blick. »Du kannst kochen?«
»Nun ja, nicht direkt. Ich kann ein paar einfache Mahlzeiten zubereiten. Ich musste es lernen, als Gwendolyn gestorben war.« Seine Nachbarn hatten sich in den Wochen nach Gwendolyns plötzlichem Tod zwar sehr um ihn gekümmert, doch George hatte sich in die
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