Im Schatten des Teebaums - Roman
hat Henrietta gar nicht erwähnt«, antwortete George.
Richard hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass vor dem Unfall irgendetwas zwischen den Schwestern vorgefallen war. Er hatte sich seit Jahren den Kopf darüber zerbrochen, doch Henrietta hatte jede Andeutung, zwischen ihr und Matilda könne böses Blut geflossen sein, entschieden zurückgewiesen – was Richard umso mehr verwirrt hatte. Er hatte nie begreifen können, weshalb Matilda nach dem Unfall die Unterstützung ihrer einzigen Schwester abgelehnt hatte. Henrietta war im Grunde die einzige Verwandte, die Matilda in Australien hatte.
Richard hätte zu gern gefragt, wie Matilda aussah, doch er wagte es nicht; es erschien ihm zu persönlich. Er beschloss, das Thema zu umgehen und zu versuchen, George auf andere Weise Informationen zu entlocken.
»W ie war es für Matilda, jemanden aus ihrer Vergangenheit wiederzusehen?«
»Anfangs schien es ihr ein wenig unangenehm zu sein, aber mir ging es genauso«, antwortete George wahrheitsgemäß. »Es ist viele Jahre her, und mir ist bewusst, dass ich ein paar Pfund zugenommen und reichlich Haare verloren habe. Was Matilda angeht, hat sie sich nicht sehr verändert.«
Richard blickte George verwundert an. »Heißt das, sie ist nicht von Narben gezeichnet?«, fragte er, jede Zurückhaltung fallen lassend.
»Nun, sie kämmt ihr Haar über eine Seite ihres Gesichts – offensichtlich, um die Narben zu verbergen. Ansonsten hat sie sich wenig verändert. Natürlich ist sie ein anderer Mensch geworden, aber das ist nach einem solch schrecklichen Unfall kaum verwunderlich. Anscheinend lebt sie sehr zurückgezogen, aber es scheint ihr zu gefallen«, fügte er hinzu, wobei er versuchte, so zu klingen, als hätten er und Matilda nur ein paar Minuten geplaudert. Er wollte nicht darüber reden, dass er bei Matilda im Hanging Rocks Inn gewohnt hatte; dann hätte Richard gewusst, dass die »nette Frau«, die sich um seine Mädchen kümmerte, Matilda war.
Doch George brannte noch eine Frage auf der Seele, und nun hielt er den Zeitpunkt für gekommen, das Thema zur Sprache zu bringen. »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich persönlich werde, Richard, aber da du Matilda erwähnt hast und einmal sehr verliebt in sie warst – darf ich dich fragen, warum du ihre Schwester geheiratet hast?«
Richard senkte den Kopf, er gab keine Antwort.
»Ich kann nur vermuten, dass Matilda dich nach ihrem Unfall verstoßen hat«, fuhr George fort.
»Ja, das hat sie«, sagte Richard. »Und ich war so dumm, es zuzulassen. Henrietta hat mich überzeugt, dass es so am besten sei. Schon bald nach dem Unfall war Matilda verschwunden. In den Wochen und Monaten darauf kamen Henrietta und ich uns näher. Sie war mir eine große Stütze, und ich war einsam. Das hat schließlich dazu geführt, dass wir geheiratet haben.«
»Das hört sich ja so an, als wäre eure Ehe eine Art Zweckgemeinschaft.«
»Das nicht gerade, aber Henrietta wusste von Anfang an, dass ich für sie nicht dieselbe tiefe Leidenschaft empfand wie für Matilda.«
George staunte über Richards Offenheit. »W arum hast du nicht nach Matilda gesucht?«, wollte er wissen.
»Das hatte keinen Sinn mehr, nachdem ich Henrietta geheiratet hatte. Ich wusste, dass Matilda mir das nie verzeihen würde … und das konnte ich auch nicht von ihr erwarten.«
George wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Richard tat ihm leid. Es war nicht zu verkennen, dass seine Gefühle für Matilda nie erkaltet waren und dass Henrietta nur seine zweite Wahl gewesen war – jemand, der da gewesen war, als er einen anderen Menschen gebraucht hatte. Richard bereute seine Entscheidung von damals offensichtlich, aber er hatte keine andere Wahl, als mit der Reue und dem Schmerz zu leben, wenn auch nur seinen Töchtern zuliebe.
»Ist Henrietta zu Hause?«, fragte George. »Ich sollte ihr guten Abend sagen, ehe ich zurück in die Stadt fahre.«
»Ich glaube, sie ruht sich aus. Aus Sorge um die Mädchen schläft sie in letzter Zeit sehr schlecht«, sagte Richard, doch George wusste, dass mehr dahintersteckte. »Aber auf eine Tasse Tee wirst du doch noch bleiben?«
»Danke für das Angebot, aber ich reite zurück. Ich muss für die morgige Zeitung noch einen Artikel über die Landwirtschaftsausstellung schreiben.« Er verschwieg wohlweislich, dass er Geschichten schreiben würde, die Matilda ihm erzählt hatte.
»Danke, dass du hergekommen bist, um uns wegen der Mädchen zu beruhigen«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher