Im Schatten des Teebaums - Roman
nicht weiß, wohin er soll, und dass er niemanden hat, der ihn füttert.«
»Füttern? Wir reden hier nicht von einem Haustier, Eliza. Der Tiger ist gefährlich und könnte eines Tages einen Farmer oder eines seiner Kinder töten. Und er tötet mit Sicherheit nicht nur, um Nahrung zu haben. Ein Tier allein könnte die vielen Schafe, deren Überreste ich gesehen habe, gar nicht fressen.«
»Sie versuchen wohl nie, etwas vom Standpunkt eines anderen Menschen aus zu sehen!«, erwiderte Eliza zornig. Hätte Brodie das Tier gesehen, würde er wissen, dass es verängstigt und halb verhungert war.
»Ihr Standpunkt ist mir zu sentimental«, bemerkte Brodie.
Elizas Wangen glühten. »Ich bin lieber sentimental als herzlos«, sagte sie, machte auf dem Absatz kehrt und eilte auf ihr Zimmer.
»W ann wird sie endlich begreifen, dass dieses Tier gefährlich ist, Matilda?«, fragte Brodie.
»Sie liebt Tiere, genau wie ich«, erwidert Tilly, die die Gefühle ihrer Nichte nachempfinden konnte.
»Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Sie Elizas Meinung teilen«, sagte Brodie.
»Nicht nach dem, was mit Dolly passiert ist, nein. Ich hasse es, wenn ein Tier sein Leben verliert, ein Tiger – wenn es einer ist – kann unmöglich neben den Farmern und ihren Familien hier in der Gegend leben.«
»Freut mich, dass Sie die Sache so vernünftig sehen.«
»Seien Sie nicht zu hart zu Eliza. Sie ist jung und idealistisch. Es ist lange her, aber ich kann mich erinnern, dass ich selbst einmal so war. Leider musste ich dann einige der härtesten Lektionen des Lebens lernen, aber meine Nichte ist in vieler Hinsicht noch unschuldig.« Matilda sprach nicht von den Jahren des Schmerzes, die sie durchlitten hatte, von den Knochenbrüchen und Gesichtsverletzungen. Sie dachte eher an den bitteren Verrat der Menschen, die sie geliebt hatte. »Ich hoffe, dass Eliza niemals auf so brutale Weise lernen muss, wie grausam das Leben sein kann«, flüsterte sie.
Am nächsten Morgen stand Eliza früher als gewöhnlich, noch vor allen anderen, auf und schlüpfte leise aus dem Haus. Der Morgen dämmerte, und der rote Himmel versprach einen strahlend schönen Tag. Sie wollte Sarah Hargraves in der Stadt besuchen, aber unbedingt vermeiden, dass Katie sie begleitete.
Als Eliza zum Stall kam, war von dem Tier, das sie am Abend zuvor gesehen hatte, nichts mehr zu sehen, doch sie konnte Spuren am Boden erkennen, dort, wo sie das Brot hingeworfen hatte. Mit einem abgebrochenen Ast verwischte Eliza die Spuren. Sie war sicher, dass Brodie die Fährte des Tieres in der Nacht zuvor im Dunkeln nicht hatte sehen können, sodass es vorerst in Sicherheit war.
Eliza stutzte, als sie einen Blutfleck auf dem Boden entdeckte. Sie schaute rasch nach den Hennen und Ziegen. Es war alles in Ordnung, sodass sie erleichtert aufatmete. War es doch kein Blut gewesen, was sie gesehen hatte?
Bis Tilly aufstand, hatte Eliza die Tiere bereits gefüttert und in den morgendlichen Sonnenschein hinausgeführt, jetzt schickte sie sich an, sich auf den Weg zu machen.
»Du bist früh auf den Beinen, Eliza«, bemerkte Tilly verwundert.
»Ich will heute Morgen in die Stadt, Sarah Hargraves besuchen. Und ich will nicht, dass Katie mich wieder begleitet. Deshalb mache ich mich so früh auf den Weg. Ich kann mich nicht gleichzeitig um meine Schwester sorgen und meine Arbeit ordentlich machen.«
»W enn Katie herausfindet, dass du in die Stadt bist, wird sie dir vielleicht folgen.«
Eliza verdrehte die Augen. »Hoffentlich nicht.«
»Sag mal, hast du die Gewehrschüsse gestern Nacht gehört? Ich dachte, sie hätten dich geweckt und deshalb wärst du so früh auf«, sagte Tilly.
»Gewehrschüsse? Wovon redest du, Tante?«
»Irgendein Tier hat gegen ein Uhr morgens versucht, ins Hühnerhaus einzudringen. Brodie meint, es könnte der Tiger gewesen sein.«
Eliza hatte keinen Schaden am Hühnerhaus entdeckt. »Hat Brodie den Tiger etwa gesehen?«
»Nein, es war zu dunkel. Er kam eben die Auffahrt hoch, als er plötzlich hörte, wie die Hennen zu lärmen begannen. Da hat er sich sein Gewehr genommen und auf das Tier geschossen, als es versuchte, ins Gehege einzudringen. Er hat es aber nicht erlegt. Er vermutet, dass es nur verwundet wurde.«
»O nein!«, sagte Eliza. Dann war es also doch Blut gewesen, was sie auf dem Boden gesehen hatte. »W as ist mit dem Tiger passiert?«
»Brodie nimmt an, dass er sich zum Sterben irgendwohin verkrochen hat. Er hat die unmittelbare Umgebung abgesucht,
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