Im Schatten des Teebaums - Roman
konnte ihn im Dunkeln aber nicht finden. Er wird weiter nach ihm suchen, wenn er ein wenig geschlafen hat. Sobald er den Tiger findet, wird er ihn von seinem Leiden erlösen.«
»Das ist ja schrecklich«, sagte Eliza, in der Wut aufstieg. »W ie kann er so etwas tun?«
»Ich weiß, du bist dagegen, dass der Tiger erschossen wird, Eliza, aber wir können nicht zulassen, dass er unsere Ziegen und die Schafe der Farmer tötet, vielleicht sogar Menschen. Ich will ja auch nicht, dass er stirbt, aber in diesem Fall sehe ich keine andere Möglichkeit.«
Eliza wusste, dass ihre Tante recht hatte, doch sie konnte ihre Gefühle nicht einfach beiseiteschieben.
»Reitest du auf Nell in die Stadt?«, fragte Tilly.
»Nein, ich gehe zu Fuß. Das wird mir ein wenig Zeit zum Nachdenken geben.«
»W illst du nicht vorher noch etwas essen? Ich werde das Frühstück herrichten«, sagte Tilly. Sie konnte sehen, dass Eliza aufgebracht war, doch sie wusste, dass das Mädchen darüber hinwegkommen würde.
»So viel Zeit habe ich nicht, Tante. Ich werde mir in der Stadt etwas besorgen.«
»V ersprichst du es mir?«
»Ja.«
Wenig später machte Eliza sich auf den Weg. Als sie die Straße entlangging, musste sie immer wieder an den Tiger denken, den Brodie angeblich verwundet hatte. War es wirklich der Tiger gewesen? Oder hatte er das Tier verwundet, das in der Nacht so zutraulich das Brot gefressen hatte? Eliza stellte sich vor, wie es unter Schmerzen irgendwo lag. Der Gedanke quälte sie. Sie nahm sich vor, nach dem Tier zu suchen, sobald sie aus der Stadt zurückkam.
Als Eliza Tantanoola erreichte, lief Mary Corcoran ihr über den Weg. Sie trat aus dem Hoftor des Hotels. Die meisten Besucher der Landwirtschaftsausstellung hatten die Stadt bereits wieder verlassen, doch ein paar Familien, die gezeltet hatten, waren noch damit beschäftigt, alles für ihre Abreise zusammenzupacken.
»Guten Morgen, Miss Dickens«, sagte Mary, während sie einen Eimer schmutziges Wasser auskippte. »Sie sind früh in der Stadt.«
»Bei dem schönen Morgen lohnt es sich, früh aufzustehen«, erwiderte Eliza. »Ich wollte Sarah Hargraves besuchen.«
»Oh, ich weiß nicht, ob Sie Sarah zu Hause antreffen«, sagte Mary. »Am Montagmorgen geht sie immer sehr früh auf den Friedhof, um ihren Harold zu besuchen.«
»Harold?«
»Ja, ihren verstorbenen Ehemann. Es ist eine Art Ritual für Sarah, ihn jeden Montagmorgen zu besuchen.«
»W o ist denn der Friedhof?«, fragte Eliza. »Ich habe ihn noch gar nicht gesehen.«
»Folgen Sie einfach der Straße, dann können Sie ihn nicht verfehlen. Um wie viel Uhr kann ich mit Mr. Chandler rechnen?«
»Ich fürchte, vorerst gar nicht«, sagte Eliza.
»W as? Wieso denn nicht?« Mary war verärgert.
»Eine der Ziegen wurde von einem Raubtier angegriffen, als wir gestern in der Stadt waren, deshalb will er seine Suche auf die Gegend um das Hanging Rocks Inn konzentrieren.«
»W as kümmert ihn denn eine dämliche Ziege, während die Farmer hier in der Gegend Dutzende von Schafen verlieren?«, schimpfte Mary.
»Ich weiß es nicht«, sagte Eliza, die es auf einmal eilig hatte, sich aus dem Staub zu machen. »Ich bin sicher, er wird heute in die Stadt kommen und mit Ihnen darüber reden.«
»Manche Gäste machen mir mehr Mühe, als sie wert sind! Erst Mr. McBride, und jetzt auch noch Brodie Chandler!«
»W as ist denn mit Mr. McBride?«, fragte Eliza verwundert.
»Er ist gestern Abend urplötzlich nach Millicent abgereist.«
Eliza war erstaunt und erfreut zugleich über diese Neuigkeit. »Er kommt doch nicht mehr zurück?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Eigentlich wollte er heute wiederkommen, aber wenn er bis zum Mittag nicht hier ist, vermiete ich sein Zimmer. Zum Wochenanfang kommen oft Handlungsreisende durch die Stadt. Einer wird bestimmt ein Zimmer brauchen, dann kann er das von Mr. McBride haben.«
»W arum ist er denn überhaupt zurück nach Millicent gefahren? Wollte er bei der South Eastern Times einen Artikel über den Tiger einreichen?«
»Ja, da war irgendetwas mit einem Artikel. Aber worum es ging, weiß ich nicht. Mr. McBride ist gestern den ganzen Nachmittag und Abend auf seinem Zimmer geblieben und hat sich Notizen gemacht. Nicht einmal mit meiner Pastete konnte ich ihn hervorlocken. Ich wollte wissen, womit er so sehr beschäftigt war, weil er so geheimnisvoll tat, aber ich hab kein Wort aus ihm herausbekommen.«
Eliza wurde misstrauisch.
»Aber wir bekommen heute im Laufe des Tages eine
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