Im Schatten des Teebaums - Roman
Richard.
»Gern geschehen. Ich weiß, was für Sorgen Kinder einem bereiten können, selbst wenn sie erwachsen sind.« George konnte sehen, dass Richards Gedanken schon wieder abschweiften. Wahrscheinlich fragte er sich, ob seine Töchter Matildas Weg gekreuzt hatten – und seine Sorge war berechtigt.
Während Matilda nach dem Abendessen aufräumte, ging Eliza hinaus, um die Hühner über Nacht ins Hühnerhaus zu sperren. Die Ziegen hatte Brodie bereits bei seinem Hengst Angus im Pferdestall untergebracht, da Matilda besorgt wegen der Tiere war.
Eliza hatte eben die letzte Henne in ihr Nachtgehege gescheucht und die Tür fest verschlossen, als sie plötzlich spürte, dass sie beobachtet wurde. Aus unerklärlichen Gründen schauderte sie. Genau dieselbe Situation hatte sie schon einmal erlebt. Langsam drehte sie sich um – und schrie entsetzt auf. Durch den Draht des Außengeheges sah sie den Kopf des seltsamen Tieres, das sie schon einmal gesehen hatte. Diesmal jedoch schien es ebenso viel Angst vor ihr zu haben wie Eliza vor ihm, denn es huschte ein paar Meter davon. Eliza hatte es offensichtlich erschreckt.
Die Stimme der Vernunft schrie Eliza zu, sie solle zum Haus laufen, um sich in Sicherheit zu bringen, doch eine Mischung aus Furcht und Neugier ließ sie verharren. Sie beobachtete das Tier. Es ließ den Kopf hängen, als wäre alle Angriffslust von ihm abgefallen. Zum ersten Mal fiel Eliza auf, dass das Tier langbeinig war und einen schlanken Leib hatte. Es war kein Haustier, denn es sah weder gut genährt noch gepflegt aus. Dieses ausgemergelte Tier war vermutlich nicht einmal imstande, ein Schaf zu reißen. Und der Gedanke, dass es mehrere Schafe gefressen haben könnte, war geradezu lächerlich.
Mit einem Mal empfand Eliza Mitleid mit diesem verängstigten und offensichtlich hungrigen Geschöpf. Ihr fiel ein, dass es in der Vorratskammer altbackenes Brot gab; Tilly hob es für die Hühner auf. Eliza fragte sich, ob das Tier es fressen würde. Sie löste sich aus ihrer Starre, überwand ihre Angst, eilte zur Vorratskammer, holte ein paar Stück Brot und kehrte vorsichtig zum Hühnergehege zurück. Das Tier stand immer noch da. Eliza warf das Brot über den Zaun. Offenbar glaubte das Tier, sie würde mit Steinen nach ihm werfen, um es zu verscheuchen, denn es wich ein Stück zurück.
»Ist ja gut«, rief Eliza besänftigend. Da der Zaun zwischen ihnen war, fühlte sie sich allmählich sicherer.
Offenbar vom Hunger getrieben, kam das Tier langsam wieder vor und näherte sich dem Zaun. Als es das Brot erreichte, schnupperte es daran, schnappte es sich und schlang es herunter.
»Du hast Hunger«, flüsterte Eliza. »Leider habe ich kein Fleisch für dich.«
Das Tier bewegte sich auf das nächste Stück Brot zu, schnappte es sich ebenfalls und eilte damit fort. Eliza sah, dass es auf die Höhlen zulief. Sie blieb noch einen Augenblick stehen und starrte ihm nach, ehe sie zum Haus zurücklief.
Diesmal hatte sie sich das Tier genauer ansehen können. Sie war jetzt sicher, dass es eine Hunderasse war, die sie noch nie gesehen hatte.
»Sind die Hühner weggesperrt?«, fragte Matilda, als Eliza das Haus betrat.
»Ja, Tante, alles in Ordnung«, antwortete sie, um einen beiläufigen Tonfall bemüht.
»Bist du sicher, dass die Tür nicht aufgeht?«
»Keine Angst, Tante Tilly. Ich habe den Riegel mit Draht befestigt.«
Brodie saß am Küchentisch. Eliza konnte spüren, dass er sie beobachtete. Zum Glück war vom Küchenfenster aus nur ein kleiner Teil des Hühnerhofs zu sehen, da er hinter der Sattelkammer und den Ställen versteckt lag, sodass nicht anzunehmen war, dass Brodie beobachtet hatte, was draußen geschehen war.
»Danke, Eliza«, sagte Matilda, »aber ich werde vor Sorge um meine Hennen heute Nacht kein Auge zutun.«
»Machen Sie sich keine Gedanken«, beschwichtigte Brodie sie. »Ich werde die ganze Nacht hindurch immer wieder patrouillieren. Ich halte ein wachsames Auge auf Ihre Hennen.« Er stand auf und steckte sich Munition in seine Jackentasche. Eliza wurde flau im Magen. Der Gedanke, Brodie könnte das halb verhungerte und verängstigte Tier erschießen, das sie in ihrer Angst für eine Bestie gehalten hatte, erschreckte sie.
Brodie schaute zu ihr hinüber und sah, dass sie beunruhigt war. »Stimmt etwas nicht, Eliza?«, fragte er. »Sie sind noch immer der Ansicht, dass ich den Tiger nicht erschießen sollte, nicht wahr?«
»Ja. Es ist schließlich nicht seine Schuld, dass er
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