Im Schatten des Vogels
meines Erachtens Maria Muttergottes sein muss. Wieso tut er das, und warum um alles in der Welt ist ihre eine Brust entblößt? Sie hält den Rocksaum hoch, als würde sie tanzen wollen, ist aber barfuß. Maria ist wie ein zartes Kind, und Bertel konzentriert und melancholisch zugleich. Es gefällt mir, bei ihnen zu sitzen.
Agnes Poulsen wohnt im Þingholt-Viertel. Während der ersten Stunde bei ihr war ich völlig verschüchtert. Sie sprach Dänisch und bot mir an, es ihr nachzutun, sagte aber, dass ich auch Isländisch sprechen könne, wenn ich wolle. Jetzt spreche ich eine Mischung, weil ich gerne Dänisch lernen möchte. Und die Madam korrigiert mich.
Der Harmoniumstuhl hat mich nicht enttäuscht. Er steht auf drei gedrechselten Beinen, ist braun lackiert und glänzt. Die Sitzfläche ist rund, und man kann sie je nach Größe des Spielers hoch- und runterschrauben. Am liebsten würde ich mich nur im Kreis drehen.
Die Madam inspizierte meine Hände. Dann schnitt sie meine Nägel. Ich setzte mich auf den Stuhl, legte meine Hände auf die Tasten und begann, die Pedale zu treten. Da erklangen diese wundersamen Töne, hohe und tiefe. In dem Moment verschwand die kleine Wohnstube, und ich saß in einer Welt aus Licht.
Sveinn stand in den Sonnenstrahlen und spielte Geige. Er legte den Kopf schief, sah mich an, und mir wurde überall warm. Ich wollte aufspringen und ihn umarmen, aber da schob mich die Madam vom Stuhl, und das Licht verschwand. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich mich befand. Sveinn war so nahe gewesen, dass sich meine Atmung nicht gleich wieder beruhigte. Versuchte trotzdem, mich auf das zu konzentrieren, was die Madam sagte.
Wir haben ganz am Anfang begonnen. Das Unterrichtsbuch heißt Harmoniumschule und ist von Bungart. Die Madam empfahl mir, Orgelmusik zu hören, wann immer ich Gelegenheit dazu habe. Daher gehe ich jetzt regelmäßig in die Dómkirkja, sitze auf der Empore und sehe dem Organisten beim Spielen zu.
Im späten Herbst sah ich die Ankündigung für ein Geigenkonzert im Zunfthaus und beschloss sogleich, hinzugehen, obwohl es fast eine Krone kostete. Gunnhildur war schockiert. Wollte sich lieber etwas Nützliches für das Geld kaufen, aber ich blieb dabei. Die Schulleiterin gab mir die Erlaubnis, und ich ging allein. Die anderen Wohnheimmädchen sahen mir verwundert nach, doch ich tat, als würde ich ihre verstohlenen Blicke nicht sehen.
Es tat weh, als ich die Geige hörte, und Tränen kullerten über meine Wangen. Sveinn spielte ein Lied nach dem anderen für mich allein. Seine Augen ruhten auf mir, und er lächelte. Das Zunfthaus war vergessen, genau wie Reykjavík und die Mädchenschule. Hatte nie existiert. Ich stand an einem hohen Gletscher mit freier Sicht auf Meer und Sander.
Das Klatschen weckte mich. Ich wollte den Traum nicht loslassen. Kämpfte. Dann versuchte auch ich, zu klatschen,ließ mir so wenig wie möglich anmerken und betete zu Gott, dass meine Sitznachbarn das Geschluchze nicht bemerkt hatten. Starrte auf den Boden, als ich nach Hause eilte.
Am nächsten Tag setzte ich mich hin und schrieb Sveinn.
Zuerst erwähnte ich den Besuch der Mädchenschule, aber nur kurz, weil ich keine Lust hatte, von der Schule zu erzählen. Dann schrieb ich ihm, wie schlecht es mir gegangen sei. Wo waren die Briefe, die er versprochen hatte?
Hatte er mich nicht gebeten, auf ihn zu warten? Wollte er nicht kommen und mich holen? Ich schrieb, dass ich die Trennung nicht länger aushalten könne. Wollte nicht glauben, dass es Papa gelungen war, ihn umzustimmen. Auf wackligen Beinen lief ich rüber zur Pósthússtræti, wo ich den Brief abgab. Und gleich anfing, auf Antwort zu warten.
Gunnhildur und ich haben uns voneinander entfernt. Sie ist lieb zu mir, aber ich weiß, dass sie mich als traurig und schwermütig empfindet. Sie selbst genießt das Leben, ist unbeschwert wie ein Schmetterling und begnügt sich weder mit Büchern noch mit Handarbeit. Kaum hat die Freizeit begonnen, da ist sie schon ins Freie gesprungen. Ich glaube, dass sie und Jósabet auf ihren Spaziergängen die meiste Zeit damit verbringen, die Auswahl in den Geschäften durchzusehen. Sie schlingen das Mittagessen herunter und sind schon unterwegs.
Vor einigen Tagen rief mich die Schulleiterin zu sich und sagte, dass sie von Madam Agnes Poulsen gehört habe, dass ich mich bei den Musikstunden gut anstellte. Sie bot mir an, auf der Schulorgel zu üben, wenn ich wolle. Ich wurde ganz rot vor
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