Im Schatten des Vogels
Freude. Dann wurde die Madam ernst und sagte, dass ich ein Auge auf meine Schwester haben solle. Sie daran erinnern,beim Herumlaufen still zu sein, Hausschuhe zu tragen und mit sauberen Händen zum Mittagessen zu kommen. Da wurde ich noch röter. Diesmal vor Scham.
Alles, was wir kaputt machen, müssen wir bezahlen. Neulich ist Gunnhildur gegen einen Tisch gestoßen und hat dabei eine Porzellankanne zerbrochen. Sie wurde fuchsteufelswild und meinte, dass die Kanne auf einem Krüppeltisch mit drei unbrauchbaren Beinen gestanden habe, doch sie wird Papa um mehr Geld bitten müssen.
Ich nutzte die Gelegenheit und versuchte, mit ihr zu sprechen, weiß aber nicht, ob sie überhaupt zugehört hat. Sie findet, dass wir unfrei sind, findet es wahnsinnig, den ganzen Weg nach Reykjavík zurückgelegt zu haben, um sich dort einsperren zu lassen. Vielleicht stimmt das sogar. Während des Unterrichts dürfen wir nicht aus dem Fenster gucken, weil wir aufpassen müssen, dürfen am Sonntagmorgen nicht ausschlafen und beim Aufsagen keine offenen Bücher auf dem Tisch liegen haben. Müssen alles auswendig wissen.
«Fünf Uhr! Schwacher Wind!»
Angst befällt mich. Kann der Kerl nicht woanders brüllen als unter unserem Fenster? Draußen ist es stockfinster. Ich nehme mein Schultertuch und schleiche mich hinaus, weiß, dass ich nicht mehr einschlafen kann. Ersticke unter der niedrigen Dachschräge. Taste mich die Treppe hinunter und setze mich auf die unterste Stufe.
Im stillen Haus höre ich Mutter, höre, wie sie sich herumwälzt und stöhnt, wie sie wach daliegt zu Hause in ihrem Bett. Trotz allem stöhnt Mutter immer so leise, dass sie niemanden aufweckt.
Wir haben keinen Brief von zu Hause bekommen, und ich habe einen schlimmen Verdacht. Eine Vermutung bezüglich Reisen … Mägden. Ich würde gerne Stoff für ein Kleid kaufen und ihr schicken. Aber sie würde sicher nie etwas daraus nähen. Ich werde es tun. Ich schwöre mir, den schönsten Stoff zu kaufen, den ich finden kann, und ein dänisches Kleid daraus zu nähen, sobald ich nach Hause komme. Die Frau des Gemeindevorstehers sollte die Schönste in der Umgebung sein. Die Kälte treibt mich wieder ins Bett, und als ich gerade einschlafe, höre ich von Weitem eine Stimme: «Der Nachtwächter hier. Sechs Uhr! Mehr Wind und leichter Schneefall!»
Dann ist Weihnachten, und nichts ist wie daheim. Ich vermisse Papa und Mutter, die kleinen Brüder, und wäre froh, wenn ich statt des Nichts hier das Mosern meiner Schwester Gauja hören könnte. Mein Körper schmerzt vor Heimweh. Wir sind ins Haus der Schulleiterin eingeladen, und als ich in ihrer Wohnstube einen geschmückten Weihnachtsbaum sehe, füllen sich meine Augen mit Tränen. Solch einen Baum habe ich bisher nur auf einem Bild gesehen. Der Duft ist wunderbar und alles so strahlend fein.
Es wäre schön, mit einem Weihnachtsbaum nach Hause zu kommen. Ihn ins kleine Gesellschaftszimmer zu stellen und die Freude der Brüder zu sehen. Mit Mutter Weihnachtspsalmen zu singen und Papa beim Akkordeonspielen zu lauschen. Als ich so dastehe und Gunnhildurs Hand fest drücke, würde ich am liebsten in Festtagskleidung ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.
Da bemerke ich Kristbjörg. Rieche ihren Duft und sehe sie plötzlich in einer der Glaskugeln, die den Baum schmücken.Sie lächelt mir verschmitzt zu. Ich trete an die rote Kugel heran und strecke die Hand aus. Streichle mit größter Vorsicht über das glänzende Rund, höre ein lautes Lachen. Mein Herz macht einen Satz, ein bekanntes Geräusch in einer unbekannten Wohnstube. Die Kugel behalte ich den ganzen Abend über im Auge. Kristbjörg lächelt, und ich zurück.
An den Feiertagen besuche ich Messen in der Dómkirkja, aber es wirkt, als seien die meisten Leute nur darauf aus, sich zu vergnügen. Immer wieder denke ich an Mutter. Sehe die heimischen Bibellesungen vor mir, das Psalmensingen und den Ernst, der mit Weihnachten verbunden ist.
Hier gibt es Weihnachtsfeiern und Veranstaltungen, und wir sind zu einem Ball im Zunfthaus am See eingeladen.
Borghildurs Bruder Bolli, der eine Tischlerlehre macht, lädt sie ein, ihn zu begleiten. Seine Kumpel möchten auch Damen an ihrer Seite haben und bitten bei der Schulleiterin für uns um Erlaubnis. Sie denkt darüber nach und sagt schließlich, dass wir gehen dürfen. Aber um zwölf Uhr müssen wir wieder zu Hause sein – ganz gleich, wie lange der Ball dauert.
Gunnhildur und Jósabet freuen sich so sehr,
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