Im Schatten des Vogels
Hatte nicht damit gerechnet, so schnell von zu Hause wegzukommen. Den ganzen Weg bis nach Reykjavík! Hat Papa versprochen, auf mich achtzugeben, lieb zu mir zu sein.
Jetzt sind wir Schwestern alle fort und nur noch die jüngerenBrüder daheim. Ich bemühe mich, die Gedanken an Mutter zu verdrängen. Weiß, dass es daheim eine neue Magd gibt. Hoffe, dass sie alt und unansehnlich ist. Halldóra geht Mutter zur Hand. In sie setze ich mein Vertrauen.
Wir haben keine Zeit, uns einzugewöhnen. Die Aufnahmeprüfung ist gleich am Tag nach unserer Ankunft in Reykjavík. Bei mir läuft es gut. Bei Gunnhildur auch. Wir werden in eine Reihe gestellt, ich bin die Vierte und Gunnhildur die Neunte.
Der Schuljahresbeginn ist feierlich. Die Schulleiterin stellt den Lehrplan vor, spornt uns an, fleißig zu sein und die Schulregeln zu befolgen. Sie ist recht klein, zierlich, hält sich gerade und ist resolut. Nach ihr kommt ein Mann und redet lange. Dann werden Psalmen gesungen.
Die Sonne scheint durchs Fenster, ich fühle mich unwohl und kann nicht folgen. Starre die anderen Mädchen an. Dachte, dass ich schick bin. Mustere meine groben Hände. Verstecke sie schnell unter der Schürze. Einst war von Musikerfingern die Rede.
Sveinn! Ich spüre einen Stich in der Brust.
Konzentriere mich auf ein Mädchen in der Reihe vor mir. Sie trägt ein dänisches Kleid. Der Stoff ist hell, die Ärmel sind lang und ein bisschen gepufft. Ein Spitzenkragen um den Hals. Sie hat eine schlanke Taille, und wie sie dort so auf dem Stuhl sitzt, wirkt der Rock weit und lang. Da ist es also: das Kleid von der Postkarte aus Grimsby. Ich muss auf meine Hände aufpassen, die das Verlangen haben, das Kleid zu befühlen. Würde den Stoff so gerne anfassen. Könnte das Seide oder Taft sein? Leinen ist wohl kaum so glänzend.
Schrecke auf, als Gesang einsetzt, und stimme in den Psalm ein. Nach der Zeremonie gibt es Kaffee und Gebäck.
Nachdem Sveinn fort war, steckte der Vogel lange Zeit in meinem Hals fest. Es kamen keine Briefe von ihm, und ich weiß nicht, ob er meinen bekommen hat. Ich hatte einen Mann gebeten, ihn mitzunehmen. Er war auf dem Weg in den Westbezirk und wollte ihn persönlich überbringen.
Alle waren unheimlich lieb zu mir, Gauja ließ das Mosern völlig sein, hatte genug mit sich selbst zu tun. Nur Papa und Magnús kriegten sich ständig in die Haare, und der ganze Hof war von Ärger und Geschrei erfüllt. Am Ende zog Magnús beleidigt ab, und Gauja mit ihm.
Ich habe Hulda keine Milch mehr gebracht, das Haus nicht mehr verlassen, mich höchstens mal auf die Torfmauer gesetzt. Es war gut, dort zu sitzen und in den Westen zu schauen. Pálmar war nicht mehr in den Wolken, aber einmal hatte ich das Gefühl, Kristbjörg kurz auftauchen zu sehen. Sie murmelte etwas und machte ein zorniges Gesicht.
Eines Abends holte Einar Sveinns Bettkantenbrett aus dem Lagerraum. Ich hatte ihn darum gebeten, war mir sicher, dass Sveinn es bei seiner Abreise zurückgelassen hatte. Mit dem Brett in den Händen brach ich in Tränen aus. Den Händedruck hatte er fertig geschnitzt und danach mit zwei verschlungenen Herzen angefangen. Weiter war er nicht gekommen.
Ich steckte das Brett ans Kopfende meines Bettes, sodass ich die Schnitzerei sehen konnte. Niemand sagte ein Wort. Ich merkte, dass Papa mit mir sprechen wollte, es aber nicht konnte, und ich ermutigte ihn auch nicht dazu. Mied ihn. Höchstens Einar gelang es, mich mal mit an die frische Luft zu nehmen. Ansonsten saß ich stundenlang vor Mutters neuer Nähmaschine. Wachte in der Nacht, schlief am Tag.
Gunnhildur und ich sind Wohnheimmädchen, was bedeutet, dass wir gemeinsam mit einigen anderen in der Schule wohnen. Wohnheimmädchen sollten eigentlich in der zweiten Klasse sein, aber wir Schwestern kennen niemanden in Reykjavík, und da es noch freie Plätze gibt, dürfen wir in der Schule wohnen. Das eine Mädchen heißt Jósabet. Sie hat rote Haare und lacht viel. Die andere heißt Borghildur, ist ernster und ein bisschen älter als wir anderen. Wir vier teilen ein Zimmer.
Wir schlafen unter einer grün gestrichenen Dachschräge, das Fenster ist ein Bullauge mit Fensterkreuz. Auf der anderen Seite des Flurs wohnen andere Mädchen. Ich brauche lange, um mich daran zu gewöhnen, an diesem neuen Ort zu schlafen. Die Platzangst ist erstickend. Höre dem Regen zu, der auf das Dach über uns prasselt. Abends hält er mich wach, doch mit der Zeit nehme ich ihn nicht mehr wahr.
Um sieben Uhr stehen wir
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