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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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dass sie im Vorfeld nächtelang nicht schlafen können. Pálína Jónsdóttir geht zum Ball, Engel hingegen früh ins Bett.
    Wir haben nichts außer den Trachten, doch als es so weit ist, tragen die meisten Frauen dänische Kleider. Sie sind zauberhaft, und ich sehe mir ganz genau die Farben und Schnitte an. Freue mich darauf, später ein solches Kleid zu nähen. Am Eingang empfängt uns Musik. Mit ungekanntem Mut schwebe ich in den Saal und lächle, als wäre ich ständig auf solchen Bällen.
    Zu Bollis Freundeskreis gehört auch Vigfús, der mit mir tanzen möchte. Als sich herausstellt, dass er wie ich aus dem Ostbezirk stammt, durchströmt es mich warm, und wir haben genügend Gesprächsstoff. Er ist groß und schlank, hat rabenschwarzes Haar und einen ebensolchen Bart, ist ein bisschen jünger als ich und attraktiv.
    Vigfús ist der Dritte in einer vielköpfigen Geschwisterreihe. Er wohnt ganz im Osten des Bezirks, ich ganz im Westen, dazwischen ein Strom und Gletscherflüsse. Vigfús lernt das Tischlern. Er möchte so lange wie möglich in Reykjavík bleiben, will so viel wie möglich lernen. Doch der Lehrlingslohn ist niedrig, und es fällt ihm schwer, sich über Wasser zu halten. Ich denke darüber nach, dass Papa für Gunnhildur und mich bezahlt und ich auch noch Musikstunden bekomme. Senke den Blick und schäme mich.
    Gunnhildur will nicht nach Hause. Jósabet auch nicht. Sie machen mich darauf aufmerksam, dass es um zwölf Uhr Punsch gibt. Aber ich bin entschlossen. Wenn sie noch einmal auf einen Ball gehen möchten, sollten sie zu ihrem Wort stehen. Das wirkt. Bolli und Vigfús begleiten uns nach Hause. Als ich stolpere, fängt Vigfús mich auf, stützt mich den ganzen Weg, und mir gefällt es. An der Treppe verabschiede ich mich und bedanke mich für den Abend. Ich merke, dass er etwas fragen möchte. Vielleicht will er mich wiedersehen, doch dazu lasse ich es nicht kommen. Bevor ich mich’s versehe, sprudelt aus mir heraus, dass ich mit einem Mann aus dem Westbezirk verlobt bin. Dann wünsche ich eine gute Nacht, eile ins Haus und schließe die Tür.
    Im Monat Þorri ruft mich die Madam nach dem Unterricht zu sich und hält einen Brief in die Luft. Der Umschlag ist braun und zerknittert von einer langen Reise. Das Blut schießt mir in die Wangen, und meine Knie beginnen zu zittern. Sie heftet ihren Blick auf mich. Will mehr wissen. Vielleicht möchte sie, dass ich den Brief öffne. Ich rühre mich nicht. Eine ganze Ewigkeit vergeht, ehe sie mir den Umschlag reicht. Mit zitternden Händen nehme ich ihn entgegen, knickse und schließe leise die Tür hinter mir.
    Wo kann ich allein sein? Nicht in diesem Haus. Hole das dicke Schultertuch und gehe hinaus. Laufe hinunter zum Strand, finde einen Stein und setze mich. Schaue hinaus aufs Meer, sehe die Wellen gegen Schären krachen, Möwen und den weißen Berg Esja in der Ferne. Die Sonnenstrahlen spielen ganz oben im Felsmassiv, hell zwar, aber eiskalt. Ich fühle den Brief in der Hand, reiße ihn vorsichtig auf und beginne zu lesen …
    Gehe weiter, langsam und ruhig. Es hat zu schneien angefangen und ist dunkel geworden. Kann keinen Wegweiser ausmachen, der Berg Esja ist verschwunden, die Möwen auch. Bloß das Meeresrauschen ist an seinem Ort und braust angenehm in den Ohren. Die handschuhlosen Finger sind taub, jegliches Gefühl verschwunden. Spüre meine kalten Füße nicht mehr. Halte verkrampft den dicken Brief.
    Als der Wind zunimmt, zerrt er am Umschlag, weht ihn auf die Erde und dann hoch in die Luft. Dort segelt er einen Moment in der Dunkelheit hin und her, dann stürzt er ab und fällt ins Meer. Tanzt mit einer Welle, wird nach unten gesogen und verschwindet.
    Setze einen Fuß vor den anderen, tastende Bewegungen.Ein Schritt nach dem anderen. Nicht stehen bleiben, nicht stolpern, nicht ängstlich sein in der Dunkelheit.
    Das Rasseln ist von Weitem zu hören, und ich erstarre. Erinnere mich, vor langer, langer Zeit … Breit und auf kurzen Beinen kommt es aus der Dunkelheit. Das Seeungeheuer!
    «Kristbjörg!», schreie ich. «Kristbjörg!»
    Sehe beide Köpfe, die großen Zähne und all die Augen. Sie starren mich an. Hilfe! Nehme die Beine in die Hand, stolpere über etwas und stürze.
    Ich hatte Glück, gefunden zu werden.
    Ein Mann, der auf dem Weg nach Reykjavík war, bemerkte einen undefinierbaren Haufen an einem Stein. Er kannte die Gegend und wurde aufmerksam. In Dunkelheit und eisiger Kälte. Er brachte mich in die Stadt. Irgendwer erkannte

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