Im Schatten des Vogels
auf, machen die Betten und gucken uns den Stundenplan für den Tag an. Um kurz vor neun sammeln sich alle Schüler, singen abwechselnd einen Psalm und sprechen ein Gebet. Bis zwei Uhr sind wir in der Schule, manchmal bis drei. Lernen Schreiben, Rechtschreibung, Grammatik, Rechnen, Musik, Leinennäharbeiten, Schneidern, Stricken und Häkeln.
Ich bin jetzt Pálína Jónsdóttir. Gunnhildur nennt mich immer noch Ljósa, Engel, aber die anderen Mädchen übernehmen das nicht. Ich erinnere mich noch an die Pálína vom Konfirmandenunterricht. Der Pfarrer und die Madam haben sich immer nur mit ihr unterhalten, aber wir beide konnten uns damals nicht so recht anfreunden. Die anderen Kinder kannten bloß Ljósa.
In den Herbstmonaten lernen Pálína und ich, miteinanderumzugehen. Und ich glaube, wir werden noch eine ganze Weile brauchen, um uns wirklich näherzukommen. Ich freue mich schon darauf, Ljósa zu treffen, wenn ich im Frühling wieder nach Hause gehe. Falls ich Pálína dann nicht ohnehin in Reykjavík zurücklasse.
Früher einmal habe ich es genossen, frühmorgens zu schlummern. Habe vor mich hin geträumt, während die Sonne darauf wartete, dass ich nach draußen kam und den Tag begrüßte. Jetzt wache ich schweißgebadet durch seltsame Geräusche in einem unbekannten Bett auf.
Ich sehe alles um mich herum wie aus der Ferne. Mit genügend Arbeit komme ich gut durch den Tag. In der dunklen Jahreszeit stricken wir, häkeln und machen Leinennäharbeiten, beginnen den Tag aber mit theoretischem Unterricht. Die Direktorin sagt, dass der Theorieunterricht abnimmt, sobald die Sonne höher steht, und dass wir dann das Schneidern lernen und mit dem Sticken, der Nadelmalerei und der Seidenstickerei vertraut gemacht werden. Ich bekomme auch die Erlaubnis, in die Schulbibliothek zu gehen. Dort finde ich Sveinns und meine Gedichte, die mich trösten.
Wie es wohl erst im Ausland sein muss, wenn Reykjavík schon so groß ist? Hier gibt es keine Wegweiser, bloß Häuser und wieder Häuser. Gunnhildur ist begeistert und findet alles spannend. Mittags haben wir frei. Dann gibt sie keine Ruhe und will, dass wir ständig durch die Stadt spazieren.
Sie treibt mich sogar in der Dämmerung nach draußen, weil sie sich an den Laternen nicht sattsehen kann. Sie stehen überall in der Stadt. Eine steht in der Bakarabrekkastraße, eine andere an der Skólabrücke. Geheimnisvolles Licht strahltdurch das Glas dieser Ölleuchten. Bevor sie gezündet werden, muss es richtig dunkel sein. Wenn der Mond scheint, bleiben die Laternen aus. Das gilt auch für Nebelwetter, wenn der Mond eigentlich scheinen müsste.
Als wir zum ersten Mal einen Laden betreten haben, sind wir ziellos im Kreis gelaufen. Wir wollten alles sehen, alles anfassen. Gunnhildur ist immer noch im fiebrigen Ladenrausch, aber mir genügt es, mich in Hansens Magasín oder im Hutgeschäft aufzuhalten. Dort kann ich stundenlang stehen und die Auswahl betrachten. In Gedanken nähe ich Kleider, Blusen und Schürzen, mache Hüte und eine kleine Ausgehtasche. Das Wort Stoffhandel hat einen ähnlichen Klang angenommen, wie ihn einst das Wort Harmonium hatte.
Die Schulleiterin hat mir geholfen, Musikstunden zu bekommen. Papa hatte einen Brief an sie geschrieben, den ich ihr gab, und eines Tages rief sie mich zu sich und sagte, dass sie eine gute Lehrerin gefunden habe. Sagte, dass es ihr nicht gleichgültig sei, wer ihre Schülerinnen unterrichte. Betonte, dass ich fleißig und gewissenhaft sein solle. Und daran denken solle, mich gut zu benehmen.
Zunächst soll ich einmal pro Woche in der freien Zeit zum Unterricht. Madam Agnes Poulsen ist meine Lehrerin. Sie ist Dänin, versteht aber Isländisch. Ich machte einen Knicks und bedankte mich, bekam aber gleich Angst.
Ob Angst mit Menschenmengen zu tun hat? Kann es sein, dass alle Einwohner von Reykjavík besorgt sind? Abends schlafe ich mit der Angst in meiner Brust ein und wache nachts damit auf. Rede mir morgens Mut zu und krieche unter der Dachschräge hervor. Versuche, das Unwohlsein auszusperren.Ich würde gerne mit Gunnhildur darüber sprechen, tue es aber nicht. Vermutlich würde sie sich dann Sorgen machen. Oder sogar Papa Bescheid geben.
In der Dämmerung laufe ich über die Austurvöllurwiese und besuche Bertel. Setze mich auf die Stufe vor dem Zaun, der ihn umgibt. In der rechten Hand hält Bertel einen kleinen Hammer. Er trägt einen Umhang mit Gürtel und hat seinen linken Arm auf den Kopf einer Frau gelegt, die
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