Im Schatten des Vogels
mich und lieferte mich in der Schule ab. Dort wurde ich ins Bett gepackt, bekam aber hohes Fieber und wurde ins Krankenhaus verlegt. Schwebte mit einer Lungenentzündung zwischen Leben und Tod. Gunnhildur saß am Bettrand und erzählte später, dass ich verdammten Unsinn von mir gegeben hätte. Ich sei ständig aus dem Bett gesprungen und hätte nach Sveinn gerufen.
Ich selbst erinnere mich an nichts, bis ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Als ich mich im weißen Zimmer umsah, dachte ich, dass ich wohl tot sein müsse.
Da fiel mein Blick auf Gunnhildur, die im Sitzen neben dem Bett schlief. Sie war also auch tot. Ich sah mich nach Kristbjörg um, dachte, dass sie mich in Empfang nehmen würde. Oder Großmutter. Streckte die Hand aus und berührte Gunnhildur, die vor Freude weinte, als sie sah, dass ich aufgewacht war.
Seit ich entlassen worden bin und wieder in meinem Bett liege, suche ich überall nach dem Brief, finde ihn aber nicht. Niemand hat ihn gesehen, außer der Schulleiterin, die kein Wort darüber verliert. Obwohl ich genau weiß, dass ich ihn erhalten habe, gibt es Tage, an denen mich der Zweifel befällt, ob überhaupt ein Brief gekommen ist. Die Mädchen sind lieb zu mir, beobachten mich aber heimlich und verstehen nicht, was passiert ist. Weshalb war ich abgehauen, und wohin war ich gelaufen? Ich weiß es selbst kaum. Weiß nicht, was über mich gekommen ist. Erinnere mich nur an Hoffnungslosigkeit. Alles andere ist im Nebel. Zähle die Astlöcher an der gestrichenen Dachschräge und versuche, bei Verstand zu bleiben.
Sveinn hatte geschrieben, dass er seit Herbst die meiste Zeit im Bett gelegen habe. Er habe mir einen Brief in den Osten geschickt – genauer gesagt zwei – und auf eine Antwort gewartet, aber nie eine erhalten. Die Kraft, die ihn bei uns erfüllt habe, sei aufgebraucht. Er bat mich, nicht mehr zu warten, ihn zu vergessen, unseren Traum zu vergessen. Sagte, dass Papa recht habe. Ich müsse heiraten und ein ganzes Haus voller Kinder mit Grübchen bekommen, ihnen vorsingen und lachen. Wenn er stark genug sei, setze er sich auf, denke an mich und spiele.
Ich weine, bis das Kissen klitschnass ist. Stopfe einen Zipfel in den Mund und beiße zu. Will nicht, dass die anderen Mädchen mein Geheule hören. Gunnhildur ist gut zu mir, und ich merke, wie lieb sie mich hat. Sie ist ernster als vorher und arbeitet gut mit. Vielleicht sorgt sie sich zu viel um mich.
Manchmal springe ich mitten in der Nacht aus dem Bett. Der Vogel flattert wie wild, sehnt sich nach Freiheit, und ich schleiche mich die Treppe hinunter und sitze dort, währendich darauf warte, dass die Platzangst vorübergeht. Gunnhildur kommt hinter mir her. Wenn ich wieder ins Bett krieche, bin ich durchgefroren. Ich dämmere weg und schlafe traumlos bis zum Morgen.
Im Winter war mir ständig kalt, aber jetzt steigt die Sonne langsam wieder höher, und die Hitze in den Unterrichtsräumen ist drückend. Mit den Pflichtarbeiten bin ich längst fertig und darf daher im Unterricht der höheren Klassen sitzen. Wenn es nicht das Sticken, die Seiden- und Blumenstickerei und das Schneidern gäbe, läge ich den ganzen Tag im Bett.
Bei der Handarbeit vergesse ich alles um mich herum, und es gelingt mir sogar, Sveinn von Zeit zu Zeit zu vergessen. Ansonsten denke ich an kaum etwas anderes. Sehne mich im Schlaf und wenn ich wach bin nach ihm. Sehe ihn vor mir, wie er mit der Geige im Bett sitzt.
An anderen Tagen bin ich stinksauer auf ihn. Warum hat er alles kaputt gemacht? Als er Huldas Milch getrunken hat, da hat sich das Glück gegen uns gerichtet. Und warum bittet er mich nicht, zu ihm zu kommen und bei ihm zu bleiben? Ich würde zu ihm gehen, so viel ist sicher. Hier gibt es keinen Papa, der mich aufhält.
Als ich diese Gedanken habe, schreibe ich ihm einen langen Brief und sage, dass ich kommen würde, wenn er mich wolle. Doch ich schicke den Brief nicht ab. Warte bis zum nächsten Tag, an dem ich ihn zerreiße, zutiefst verletzt darüber, dass er mich zurückgewiesen hat.
Eines Tages wartet nach dem Unterricht Papa auf Gunnhildur und mich. Ich starre ihn an, traue meinen Augen nicht. Dann fliege ich ihm an den Hals. Spüre seinen borstigen Bart anmeiner Wange und seine kräftigen Hände um mich. Immer gleich sicher.
Mir wird klar, dass natürlich Gunnhildur oder die Madam ihm geschrieben haben. Ihm von der kleinen Ausreißerin und der Erkrankung erzählt. Ihm die Rechnung für den Krankenhausaufenthalt geschickt.
«Meine Güte,
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