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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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bevor ich auf den Boden falle. Legt mich auf den Diwan. Holt weitere Tropfen, zählt sie ins Glas und lässt mich trinken. Deckt mich zu. Setzt sich zu mir. Sagt gegen seine Gewohnheit kein Wort und streichelt unbeholfen über die Decke.
    «Engelchen, nun komm doch zu Sinnen», sagt er nach einer ganzen Weile.
    «Ohne Sveinn kann ich nicht leben», flüstere ich matt.
    «Unsinn!», brüllt er und springt auf. «Du wirst verreisen, dich in der Welt umsehen! Gehst nach Reykjavík, auf die Mädchenschule. Ich habe mich schon um alles gekümmert. Du lernst das Nähen und Stricken. Lernst alles, was du magst. Fängst ein neues Leben an!» Er läuft im Zimmer auf und ab, klein und mit tiefrotem Gesicht. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen, setzt sich wieder und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an: «Du kaufst ein Harmonium, lernst, darauf zu spielen, und bringst es nach Hause ins Schloss!»
    Jetzt brummt es in meinen Ohren. Von all dem, was Papa da sagt, habe ich jahrelang geträumt. Mit dem Gedanken ans Stricken und Nähen habe ich geliebäugelt, seit ich mit der alten Kristbjörg in der Stube meine ersten Maschen aufgenommen habe. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich alldem mit Kummer im Herzen gegenübertreten würde. Das Wort Harmonium hat seinen Glanz verloren.
    Draußen auf dem Hof ist Hufgeklapper zu hören, und Papa springt auf.
    «Sie sind da!», ruft er. «Wir werden uns damit zufriedengeben, Engelchen! Dein Papa weiß doch, was für dich am besten ist.»
    Er drückt fest meine Hände, quetscht sie, geht schnell zum Fenster und wirft einen Blick nach draußen. Dann ist er schon weggeeilt.
    Bevor er die Gäste hereinbittet, schleppe ich mich aus dem Gesellschaftszimmer. Gehe in die Küche und hole Milch fürHulda. Stoße auf Einar und bitte ihn, Sveinn auszurichten, wo ich zu finden bin. Dann laufe ich hinauf zur Senke.
    Ich muss nicht lange warten. Er ist bei mir. Endlich kann ich weinen. Mit Sveinn kann ich weinen, lachen und schweigen. Ihm kann ich alles zwischen Himmel und Erde anvertrauen.
    Sveinn bittet mich, auf ihn zu warten, so, wie wir es im Hochland vereinbart hatten. Er wird schreiben und ich antworten. Er meint zu wissen, dass alles gut wird, dass er gesund wird. Wir dürfen nur nicht aufgeben. Ich bin wie versteinert, nicke und halte ihn fest, glaube alles, tue was auch immer, wenn er bloß bei mir ist.
    Gegen Mitternacht wird alles ruhig. Dann ist Zeit für Ungesagtes, Ungeschehenes, für Versprechen und Schwüre. Für das, was keiner wissen darf. Es wird geflüstert und mit heißen Händen gestreichelt. Noch ist Raum zum Atmen.
    Ganz plötzlich ist es vorbei, lugt die Sonne über den Berg. Eine Maus flitzt aus ihrem Loch. Blinzelt in den neuen Tag. Eine Spinne spinnt weiter. Und ein Schmetterling flattert. Da ist er wieder, der Schmetterling von neulich. Sitzt spottend auf meinem Handrücken. Der Schmetterling, der sich nicht um meinen sehnlichen Herzenswunsch geschert hat. Ich schlage die andere Hand darauf und fühle ein winziges Zittern, als er zwischen Handrücken und Handfläche zerquetscht wird. Puste einen grauen Fleck weg. Stehe auf. Wir laufen Hand in Hand zurück zum Hof.
    Draußen machen sich die Forschungsreisenden bereit. Wir schauen uns in die Augen. Durch den Tränenschleier kann ich Sveinn kaum noch erkennen, renne ins Haus und werfe mich angezogen aufs gemachte Bett. Als das Hufgeklapper verstummt ist, gehe ich hinaus, setze mich auf die Torfmauer und lasse meinen Blick über den Sander schweifen.

III
    Hier gibt es keinen Gletscher, keine Sander, nichts, wo die Augen verweilen könnten. Ich versuche, den Berg Esja anzuschauen, ihn zu meinem Berg zu machen, doch er ist zu weit weg, und der scharfe Nordwind bläst direkt aus seiner Richtung. Noch haben wir uns jedenfalls nicht angefreundet. Das Kreischen der Möwen und das Krächzen vereinzelter Raben sind die einzigen Geräusche, die ich höre. Jetzt wäre es gut, die Sprache der Raben zu verstehen, sich mit den Schwarzgefiederten zu unterhalten und durch sie Nachrichten zu empfangen. Man hat mir gesagt, dass die Küstenseeschwalbe zum Tjörnin kommt, zum See westlich der Schule, wenn es Frühling wird. Wenn es denn jemals Frühling wird.
    Die Wiese auf dem Austurvöllur ist umzäunt. In der Mitte des Platzes steht Bertel Thorvaldsen. Seine Statue befindet sich innerhalb eines Eisenzauns, und ich fühle, wie einsam er ist.
    Meine Schwester Gunnhildur ist mit mir zur Mädchenschule gereist. Sie war quietschfidel.

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