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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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was bist du dünn!», sagt er und kneift mir in die Wange. Ich lächle übers ganze Gesicht. Halte Papa fest umschlungen. Darf nicht daran denken, dass er wieder fortgeht. Nie.
    Doch er hat keine Eile. In Reykjavík muss er allerhand erledigen, wohnt bei einem alten Bekannten. Kennt viele.
    Eines Tages geht er mit Gunnhildur und mir zur Lateinschule. Er bekommt die Erlaubnis, uns die Schule zu zeigen, die er einen Winter lang besucht hat, und er ist stolz, als er uns herumführt. Papa wohnte im Langaloft, dem engen und stickigen Wohnheim der Schule. Wir dürfen es uns nicht ansehen. Ich möchte ihm von unserem Wohnheim erzählen. Und von der Platzangst und davon, wie schlecht ich dort schlafe, doch ich will jetzt über nichts Zermürbendes sprechen.
    Als Gunnhildur fragt, weshalb er nur einen Winter in der Schule gewesen sei, macht er ein verschmitztes Gesicht. Sagt, dass er anderswo dringende Geschäfte zu erledigen hatte. Im selben Moment geistert mir die Elfenfrau aus dem Westbezirk durch den Kopf.
    Papa hat einen Brief von Mutter dabei. Er ist kurz, und ich habe das Gefühl, dass sie etwas ungesagt lässt. Sie schreibt über das Wetter und die Gesundheit, lobt meine Brüder und erzählt von Halldóra.
    «Im Herbst kam Þórarinn überraschend zu Besuch. Er fragte viel nach dir, ist wahnsinnig tüchtig, und diesmal haben sich dein Papa und er gut verstanden. Wir haben ihn alle schrecklich vermisst, als er wieder ging.» Es sticht mir ins Herz. Hätte Þórarinn sehen wollen. Ob seine Ohren noch genauso abstehen wie früher?
    Mutter erwähnt keine Magd, doch Gunnhildur fragt Papa geradeheraus. Ich selbst hätte das nie gekonnt und senke den Blick. Doch es bringt ihn keineswegs in Verlegenheit, er erzählt, dass sie Sigrún heiße, eine Schönheit aus dem Álftafjord. Meint vor allem, dass Þórarinn ihr ein wenig den Kopf verdreht habe. Da lacht er laut in die Stille hinein. Ich schaue auf und werfe ihm einen scharfen Blick zu, aber da lacht er bloß noch lauter.
    Während Papa in Reykjavík ist, zieht Sveinn sich zurück. Höchstens im Traum lässt er sich mal blicken. Und ich nähe ein dänisches Kleid. Im Schneiderunterricht habe ich schon eine Schürze, ein Mieder, eine Alltagsbluse, einen Rock, eine Trachtenjacke und eine Weste genäht. Deshalb bekomme ich die Erlaubnis, das Kleid zu nähen.
    Ich möchte es hell halten, und nach langer Überlegung suche ich einen weinroten Stoff aus. Der Stoff ist hochwertig, das Kleid ist am Hals hoch geschnitten und hat lange Ärmel, die vorn enger werden. An der Taille ist es durch den leicht ausgestellten Rock unterbrochen. Ich werde für meine Sorgfalt gelobt.
    Ich möchte auch Mutter Stoff für ein dänisches Kleid kaufen, doch davon will Papa nichts hören. Er meint, dass sie isländische Kleidung tragen solle. Wie sehr ich auch bitte, er hört nicht auf mich. Aber er ist bereit, ihr Stoff für eine neueSchürze und ein Halstuch zu kaufen. Und wir Schwestern dürfen beide Stoff für ein Kleid haben.
    Ich hintergehe Papa eiskalt, als ich beschließe, dass Mutter meinen Stoff bekommen soll. Der Stoff ist in einem schönen Grün, und ich weiß, dass ihr diese Farbe stehen wird. Zuerst hatte ich überlegt, ob sie nicht lieber ein Kleid aus schwarzem Taft bekommen soll, kam aber zu dem Schluss, dass sie lange genug Schwarz getragen hat. Es ist Zeit, dass sie mal helle Farben trägt, und ich freue mich darauf, für sie zu nähen.
    Papa muss neue Mixturen und Salben besorgen und mit anderen Homöopathen sprechen. Er macht sich auch Gedanken über den Hausbau und berät sich mit einem Tischler. Tagelang lässt er sich nicht blicken, und dann taucht er plötzlich mit einem Lächeln übers ganze Gesicht in unseren freien Stunden auf und spaziert mit uns durch die Stadt. Er begleitet mich zur Musikstunde bei Madam Poulsen, hört zu und beratschlagt sich mit der Madam wegen des Kaufs einer Orgel. Das Schloss ist in Reichweite gerückt, und da darf die Orgel nicht fehlen.
    Ich glaube, dass Madam Poulsen sich ein bisschen zu Papa hingezogen fühlt. Nach der Stunde lädt sie uns auf einen Schluck Kaffee ein. Papa spricht ausgezeichnet Dänisch, was mich zutiefst verwundert. Er scheint es zu genießen, in Reykjavík zu sein, und mir wird bewusst, dass dies der Mann ist, der überall anziehend auf Menschen wirkt. Gleichzeitig fällt mir auf, dass Gunnhildur Papa ähnlich ist und ich Mutter.
    Am liebsten würde ich von Papa Sveinns Briefe fordern. Warte auf eine Gelegenheit, in der ich

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