Im Schatten des Vogels
angefangen hatte, im dänischen Kleid mit hochgesteckten Haaren in der neuen Küche das Leben zu genießen, hat jetzt jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie Kaffee aufgießt. Ich bin in einer Zwickmühle, und die Übelkeit macht mich fertig. Versuche, Mutter zu trösten. Glaube, dass das vorübergehen wird.
Im Góa, dem vorletzten Wintermonat, gehen die Männer fischen, und das Haus füllt sich wieder mit frischem Fisch. Wenn sie morgens fort sind, ist es wie die Ruhe nach dem Sturm. Wir gönnen uns einen Extraschluck Kaffee und plaudern in der warmen Küche.
Ich melke und kümmere mich um die Hofarbeit. Halldóra wird langsam blind, trotzdem strickt sie nahezu ununterbrochen. Sie und Mutter sehen nach Stefán, wenn ich nähe. Komme in letzter Zeit nie dazu, mich an die Orgel zu setzen. Abends und am Wochenende, wenn die Männer zu Hause sind, geht das Kräftemessen und Gezanke weiter. Langsam wächst mir das alles über den Kopf. Vigfús hört mit dem Fischen auf und übernimmt die Hofarbeit, froh darüber, Papa zu entkommen.
Einmal, als ich im Obergeschoss an der Nähmaschine sitze, kommt Pétur Jakob zu mir herauf. Draußen ist kräftiger Südostwind und kein Boot auf See. Er ist fest entschlossen, im Frühling nach Seyðisfjörður zu Gauja und Magnús zu gehen, hat Papa gegenüber aber noch nichts erwähnt. Papa ist schlechtdrauf, und ich weiß, dass er sich Pétur Jakob gegenüber nicht im Griff hat. Aber ich weiß auch, dass Pétur Jakob trotzdem gehen wird. Nicht nur bis nach Seyðisfjörður, sondern hinaus in die Welt.
Ich stehe auf und strecke mich. Mein Kreuz schmerzt, ich lege langsam zu. Vigfús hat sich im Nebenzimmer hingelegt, und Stefán macht sein Mittagsschläfchen.
Pétur Jakob hat schon genau geplant, wo er nach Ingi suchen will. Von Seyðisfjörður aus möchte er nach Norwegen und von dort nach Britannien reisen. Dann seine Fährte aufspüren. Herausfinden, auf welchem Schiff Ingi war. Wohin er gefahren ist. Verspricht, mir zu schreiben und mich wissen zu lassen, wie es ihm ergeht.
«Du solltest mit deinem Papa sprechen, bevor du groß herumsuchst», sagt auf einmal eine heisere Stimme aus dem Zimmer nebenan.
Die Worte hängen in der Luft. Der Vogel schießt in meinen Hals, und ich stolpere, doch Pétur Jakob fängt mich auf. Auf wackligen Beinen gehe ich rüber zu Vigfús.
«Was willst du damit sagen?», flüstere ich matt durch den Türspalt.
«Sag uns, was du weißt», schreit Pétur Jakob. Er weckt Stefán mit diesem Lärm und will auf Vigfús losgehen, der sich im Bett aufgesetzt hat. Ich halte meinen Bruder zurück.
Vigfús weiß nichts Genaues, spricht von einem alten Gerücht. Aber er glaubt, dass die ganze Gegend mehr weiß als wir. Verweist noch einmal auf Papa.
Wie aus weiter Ferne höre ich Stefán weinen. Pétur Jakob stürzt die steile Treppe hinunter, ich hinterher.
Papa ist im Arbeitszimmer. Er schaut auf, als wir hereinplatzen. Pétur Jakob macht keine Umschweife. Legt die Kartenauf den Tisch. Möchte alles über Ingi wissen. Er macht solch einen Lärm, dass sich auch die anderen Brüder auf dem Schauplatz einfinden und hinter uns im Türspalt stehen.
Papa ist vollkommen gefasst, sieht fast so aus, als hätte er mit uns gerechnet. Grau und gebeugt sitzt er am Schreibtisch. Die Worte kommen nur langsam aus ihm heraus: «Er hat auf einem britischen Seelenverkäufer angeheuert, der in einem Unwetter bei Gibraltar untergegangen ist. Wo sie hinwollten, weiß ich nicht, man hat ihn nicht gefunden. Wurde abgeschrieben.» Da kommt Leben in Papa, und er schreit, den Tränen nahe: «Wieso musste er auch fortgehen?»
«Wie lange ist das her?», schaffe ich hervorzustoßen. Ich klammere mich an Pétur Jakob.
«Kurz nachdem wir das letzte Mal von ihm gehört haben.»
Taumle aus dem Zimmer, sehe Mutter auftauchen. Höre Weinen aus dem oberen Stock, die erregten Stimmen meiner Brüder und von Papa, der sich nicht mit Vergangenem quälen will. Im Flur nehme ich mein Schultertuch und wickle es um mich. Gehe hinaus, hinauf zur Schlucht. Sehe nichts vor lauter Tränen, finde einen Stein und setze mich. Der Vogel schlägt mit den Flügeln um sich, doch das Rauschen des Wasserfalls bringt ein wenig Linderung.
Ich schließe die Augen, bin auf dem alten Torfhof. Ingi ist überall, sein Lächeln und Lachen. Die Sonne scheint, und ich spüre den Regen nicht mehr.
Vigfús rüttelt an mir, und ich schrecke auf. Sitze unverändert auf dem Stein. Klitschnass. Er nimmt meinen Arm und
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