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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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Stoffen, Borten und Hüten und fragt, ob ich nicht mal zum Einkaufen nach Reykjavík kommen müsse. Ich könne bei ihnen wohnen. Beim Gedanken an all die Meterware kribbelt es zart in mir.
    Anders als sonst sind Papa und Vigfús einer Meinung, als sie Gunnhildurs Vorschlag als Unsinn abtun.
    «Wir brauchen nichts, mein Mädchen», sagt Papa bestimmt. «Der Hornafjord versorgt uns.» Dann zieht er verdrossen ab.
    Es sieht ganz so aus, als sei die Zeit der Offenbarungen gekommen, denn pünktlich zu Beginn der Adventszeit platzt Páll Jósúa damit heraus, dass er mehr über die Geschwister wissen wolle, die fortgegangen sind. Wir sitzen gemeinsam in der Küche,wo es am wärmsten ist, und die ganze Runde verstummt. Einen Moment lang ist nichts außer dem Klackern der Stricknadeln zu hören. Da greift Papa nach einem Buch, möchte laut vorlesen, aber ich komme ihm zuvor und fange an, von Ninna zu erzählen, die auf einem großen Anwesen in der Fljótsdalsregion im Osten lebt und eine ganze Kinderschar hat.
    «Anwesen», zischt Papa und lässt das Buch sinken. Niemand widerspricht ihm, da niemand genau weiß, wie Ninna lebt.
    «Es scheint ihr gut zu gehen, so selten wir auch von ihr hören. Hat einen Witwer mit sieben Kindern geheiratet und im letzten Sommer ihr fünftes eigenes bekommen.»
    «Ich möchte Gauja und Magnús in Seyðisfjörður besuchen», mischt sich Pétur Jakob ein. «Gauja sagt, dass es in Seyðisfjörður genügend Arbeit für mich gibt. Und dass man von dort aus mit dem Schiff nach Norwegen fahren kann.»
    «Du gehst nirgendwo hin, Junge», antwortet Papa gereizt mit erhobener Stimme. Er trägt Balladen von Sigurður Breiðfjörð vor, so lange, dass Zeit zum Schlafengehen ist, als er endlich aufhört. Papa trifft die Töne nicht und jault an den höchsten Stellen. Das ist mir noch nie aufgefallen. Vielleicht ist es heute deutlicher, weil er wütend ist.
    Niemand hat denjenigen erwähnt, über den ich am liebsten sprechen würde.
    In Pétur Jakob sitzt die Wut. Am nächsten Tag kommt er zu mir und beklagt sich bitterlich.
    «Warum durften Gunnhildur und du auf die Mädchenschule gehen, während ich noch nicht einmal erwähnen darf, den Hof zu verlassen?», fragt er geradeheraus.
    Meine Zunge ist wie um die Zähne gewickelt. Soll ich ihmsagen, dass Papa mich nach Reykjavík geschickt hat, um mich den Mann vergessen zu lassen, den ich liebte? Und Gunnhildur gleich mit, um auf mich aufzupassen! Nein. Ich lasse die Nähmaschinenkurbel los und sage, dass Papa verbittert sei, womöglich müde und langsam alt. Bitte Pétur Jakob um Verständnis.
    «Uns gegenüber zeigt er auch kein Verständnis. Muss immer alles bestimmen», schimpft er mit zitternder Stimme weiter.
    «Erzählst du mir von unserem Bruder Ingi?», sagt er dann, sieht mir direkt in die Augen und fragt: «Wieso kann Mutter noch nicht einmal von ihm erzählen?»
    Ich merke, wie schwer es mir fällt, hole aber die Karte und den Brief von Ingi. Die Worte kommen stockend, als ich zu erzählen beginne …
    Gegen Weihnachten weiß ich, dass ich schwanger bin. Morgens ist mir übel, und ich muss mich übergeben. Vigfús ist lieb zu mir und hochzufrieden, doch ich bin zu schwach, um mich mit ihm zu freuen. Trotzdem genieße ich es, an das kleine Sommerkind zu denken. Vigfús ist sich sicher, dass es ein Junge ist, meine Brüder hingegen meinen, dass es ein Mädchen wird, das sie später verwöhnen können. Ich selbst habe kein Gespür für das Geschlecht, möchte es aber nach meiner Mutter Katrín benennen, wenn es ein Mädchen wird. Papa ist schlecht gelaunt und viel unterwegs.
    In den letzten Wintermonaten fahren Vigfús und Papa hinaus zum Fischen. Einar und Pétur Jakob sind auch mit dabei. Die Fänge sind gut, doch mir ist unwohl dabei, sie alle auf demselben Sechsruderer zu wissen. Die Küsten sind gefährlich, wennman sie nicht kennt. Papa ist jahrelang vom Skriðusander aus gerudert, trotzdem bin ich unruhig.
    Abends sind die Männer todmüde, und die Atmosphäre zwischen Papa und Vigfús ist geladen. Papa meckert und knallt Türen, Vigfús schweigt und ist dickköpfig. Einar beklagt sich bei mir, dass Papa die Frechheit und Aggressivität in Person sei, Vigfús hingegen stur und haarspalterisch. Er möchte auf ein anderes Boot, dabei ist es sicher sinnvoll, dass sie alle zusammenbleiben.
    Ich spreche mit Vigfús, bitte ihn, sich nicht mit Papa zu streiten, mir zuliebe, doch er hört nicht auf mich. Sagt, dass ich diese Seite an Papa nicht

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