Im Schatten des Vogels
tun. Habe keine Zeit, um Tiere und Menschen in der Umgebung zu heilen.
Doch Papa ist so enthusiastisch, dass ich es nicht über mich bringe, ihn zu bremsen. Nebenbei werfe ich Fragen zur Hochzeit,zu Vigfús und mir ein, aber er hört nicht und redet einfach darüber hinweg. Es ist schon Nacht, als wir endlich zu einem Ende kommen.
Mutter und Halldóra freuen sich darauf, Vigfús im Haus zu haben. Glauben, dass alles einfacher wird, wenn ein Tischler auf dem Hof ist. Er ist lieb zu ihnen, zuverlässig und angenehm gesprächig. Papa sagt nichts, doch ich habe eine vage Ahnung. Sein Schweigen weckt ein ungutes Gefühl in mir, das ich beseitigen will. Sveinns Brett war an meinem Bett, seit Einar es im Stall gefunden hatte. Ich streichle zärtlich über die Herzen und den geschnitzten Händedruck, schiebe es dann ganz tief in eine dunkle Nische unter dem Dach.
Der Hochzeitstag ist ein strahlender Herbsttag. In aller Herrgottsfrühe weckt mich der Vogel. Ich laufe hinauf zum Wasserfall. Blicke über den Sander und lasse die Gedanken schweifen. Kämpfe gegen das Erstickungsgefühl an. Noch hätte ich Zeit, könnte ein Pferd satteln und in Richtung Westen reiten. Denjenigen suchen, der hoffentlich noch am Leben ist.
Im Felsen macht jemand Musik. Sitze bewegungslos, lausche gebannt. Jetzt qualmt es zu Hause auf dem Hof. Als ich an der Elfensenke vorbeikomme, möchte ich die leere Milchkanne mitnehmen, sehe sie aber nirgendwo. Da steht plötzlich eine Frau vor mir, klein und kräftig, in einem langen, meergrünen Gewand. Sie reicht mir wortlos die Kanne und lächelt unmerklich. Ihre Augen glänzen hell, und es schaudert mich wohlig. Sie streichelt mir zart über die Wange. Dann ist sie verschwunden, genauso schnell, wie sie aufgetaucht war.
Auf dem Heimweg überlege ich, ob sie wirklich da gewesen ist, spüre aber noch die warme Berührung und erinnere michgenau an ihren Blick. Sehe sie vor mir, weiß aber, dass etwas fehlt. Später wird mir bewusst, dass zwischen ihren Augen kaum Abstand war.
Nach der Hochzeit bekommen Vigfús und ich das Ostzimmer für uns, und ich begreife nicht, wie ich leben konnte, bevor er da war. Er umarmt mich und hält mich warm. Mir ist ständig kalt, ihm heiß. Abends macht er Witze über meine eiskalten Hände und Füße und fragt, wo denn die Jungfrauenhitze geblieben sei, doch ich versichere ihm, dass sie nie da gewesen ist. Vigfús meint, dass ich zu dünn sei und ein bisschen zulegen müsse. Das will ich nicht, und außerdem ist es ganz gleich, was ich esse, es setzt sowieso nicht an.
Obwohl ich jetzt Vigfús’ Frau bin, träume ich noch von Sveinn. Manchmal geht es mir in den Träumen so gut, dass ich nicht aufwachen will und lange weiterschlummere. Wenn ich dann Vigfús an meiner Seite sehe, werde ich die Gewissensbisse nicht los. Müsste ich nicht von ihm träumen?
Vigfús bringt seine Tiere mit – ein Pferd, eine Kuh und einige Schafe – und ist ein klein wenig stolz auf seinen Beitrag zum Bestand. Außerdem besitzt er fünf Hühner und den Hütehund Garpur, der ihm auf Schritt und Tritt folgt. Ich untersage Garpur den Zutritt zum Schlafzimmer. Lasse mich nicht erweichen, obwohl er jaulend vor der Tür liegt. Unsere Hunde schlafen am Hauseingang. Papa droht, ihm den Hals umzudrehen. Irgendwann verstummt Garpurs Gejaule, er beruhigt sich, und wir fangen an, das Ganze zu genießen. Bald nimmt das Leben seinen geregelten Lauf, und auf den ersten Blick sind alle zufrieden – bis auf Papa, der bei der kleinsten Kleinigkeit aus der Haut fährt.
In einem Brief von Gunnhildur heißt es, dass sie und Þórarinn vor Kurzem geheiratet hätten. Sie schreibt auch, dass sie in Reykjavík eine Hebammenausbildung mache und es hervorragend laufe.
Ich lese den Brief laut vor und muss ihn für Mutter und Halldóra immer wieder lesen.
«Die Hebammenausbildung ist viel interessanter als die Mädchenschule», schreibt sie, fügt dann aber hinzu, dass ihr jener Winter dort trotz allem genutzt habe und sie nicht wisse, ob sie ohne ihn die Hebammenausbildung hätte aufnehmen können. «In Reykjavík gibt es genügend Arbeit für mich. Þórarinn fährt nicht mehr auf See, sondern arbeitet in einem Geschäft», lese ich weiter.
«Erinnerst du dich noch an Hansens Magasín?», fragt sie. «Dort ist Þórarinn jetzt Verkäufer. Er steht gleich unter dem Geschäftsleiter, der wiederum nur dem Eigentümer untersteht.»
Ja, gewiss erinnere ich mich an Hansens Magasín. Gunnhildur spricht von schönen
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