Im Schatten des Vogels
was sie selbst will, ist sie nicht zurechtgekommen. Wenn du mal heiratest, möchtest du nicht so viele Kinder haben. Wenn du überhaupt heiratest.
Mutter singt nicht mehr. Sie, die bei der Arbeit immer gesungen hat. Vater sagt, dass sie sich vom Tod ihres Papas erholen müsse. Wieso musste er auch ausgerechnet jetzt sterben, da es Mutter gerade ein bisschen besser ging? Du weißt, dass man auf Tote nicht böse sein soll, aber du bist es trotzdem. Großvater hätte wirklich noch warten können.
Im Spätsommer werden Jón und Þorgerður auf Nachbarhöfe geschickt. Jón ist umtriebig und tüchtig, seine Schwester hingegen klein und kränklich. Meine Kinder sollen auf unterschiedlichen Höfen zu guten Leuten in Pflege, und ich muss mich ausruhen und gesund werden. Die großen Kinder und Vigfús wollen sich um den Hof kümmern.
Ich hätte gerne mitentschieden, doch Vigfús teilte mir erst kurz bevor sie gingen mit, dass es so sein würde. Obwohl ich es kaum schaffe, den ganzen Tag auf sie zu achten, sollte ich etwas zu sagen haben. Trotzdem versuche ich gar nicht erst, zu protestieren. Blicke nur stumpf vor mich hin.
Als Vigfús mit den Kindern geht, torkle ich hinunter und umarme sie. Jón sträubt sich, Þorgerður nicht. Sie klammert sich an meinen Hals. Dann nimmt Vigfús sie mir vorsichtig ab, setzt sich aufs Pferd, und ich schaue ihnen hinterher, alssie wegreiten. Stütze mich am Türrahmen ab. Ringe nach Luft.
Da fällt mein Blick auf die Orgel. Habe sie lange nicht angerührt. Öffne sie und wische den Staub weg. Streiche über die Tasten. Dann beginne ich zu spielen. Erst suchend, dann energisch.
Katrín gießt Kaffee auf und lächelt. Ich versuche, zurückzulächeln. Trete kräftiger aufs Pedal. Muss meine Kinder wiederbekommen. Spiele, als ob unser Glück auf dem Spiel stünde.
Als Vigfús nach Hause kommt, spiele ich immer noch. Er sieht mich erstaunt an und fragt, ob ich mich nicht anziehen wolle. Es ist, als würde mir ein nasser Lappen ins Gesicht klatschen. Wieso zum Teufel ist er nach Hause gekommen? Warum muss er immer alles kaputt machen? Ich stehe auf, würde ihn am liebsten anschreien, halte mich aber zurück. Gehe nach oben und verkrieche mich unter der Bettdecke.
Vigfús besucht Jón und Þorgerður in regelmäßigen Abständen und erzählt uns von ihnen. Sagt, dass es ihnen gut gehe und sie schon gewachsen seien. Ich versuche, sie vor mir zu sehen. Das klappt unterschiedlich gut. Manchmal schrecke ich mitten in der Nacht eiskalt vor Furcht auf. Kann nicht schlafen. Höre die Kinder weinen. Vielleicht ist jemand böse zu ihnen, lässt seine Wut an ihnen aus. Lässt sie spüren, dass ihre Mutter geisteskrank ist.
Eines Tages, als ich in bester Form bin, kämme ich mich und ziehe mich an. Vigfús arbeitet irgendwo anders, und die Mädchen sammeln Beeren. Ich gehe nach draußen und sehe weder Stefán noch Ingi, vielleicht sind auch sie beim Beerensammeln. Das Wetter ist gut, und unsere Gipfel liegen frei im Sonnenschein. Jetzt endlich gewöhne ich mich an sie. Besondersan den im Osten. Er ist niedriger und nicht ganz so mächtig wie der andere. Wenn ich nichts anderes vorhätte, würde ich heute hinauf zum Stein laufen. Werfe einen Blick in den Schuppen – mein Sattel ist immer noch versteckt.
Wo Vigfús ihn wohl hingetan hat?, frage ich mich und grinse. Spielt keine Rolle, hätte ohnehin keine Kraft, ein Pferd zu satteln. Laufe die Wiese hinunter. Ich habe ein Stück Zucker in der Hand, das ich Blakkur gebe. Dann tätschle ich ihn, lege ihm die Trense an und führe ihn zu einem grasigen Erdhuckel, stelle mich darauf und schwinge mich auf den Pferderücken. Lächle vor mich hin. Ich kann immer noch tun, was mir gefällt.
Die Hausherrin Guðbjörg empfängt mich an der Tür. Ich frage, wie es Þorgerður gehe, sie scheint erstaunt, mich zu sehen, antwortet aber nicht. Mustert mich und sieht natürlich trotz der hochgesteckten Haare und des dänischen Kleids, wie verschwitzt ich bin. Einige Strähnen haben sich gelöst, und meine Wangen glühen nach dem Ritt.
Die Hausherrin sagt, dass das Mädchen schlafe, doch ich möchte sie sehen. Sie füllt die gesamte Türöffnung aus und lässt mich nicht vorbei. Sie strahlt Abneigung aus. Guðbjörg ist jünger als ich, hat X-Beine und sieht liederlich aus. Ich bemühe mich, die Fassung zu bewahren, und sage, dass ich warten würde, bis das Kind aufwache, doch sie bittet mich nicht herein. Blakkur grast auf der Wiese am Hof. Ich schaue mich um, setze
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