Im Schatten des Vogels
mich schließlich auf den Pferdestein, zum Warten entschlossen. Guðbjörg schließt sorgfältig die Haustür.
Ich sitze lange. Höre ein Weinen, das ich kenne. Drücke die Klinke und merke, dass die Tür abgeschlossen ist. Klopfe an und rufe nach Þorgerður. Keine Antwort, schlage, so fest ichkann. Schreie! Setze mich schließlich wieder hin und warte weiter.
Es beginnt zu regnen und zu winden. Ich wickle das Schultertuch fester um mich. Der Gedanke, mein Mädchen so nah zu wissen, lässt mich von außen gegen die Hauswand schlagen. Þorgerður erkennt meine Stimme und ruft nach mir. Doch die Eingangstür ist nach wie vor verschlossen.
Blind vor Tränen rufe ich Blakkur, steige mit wackligen Füßen auf den Pferdestein und gelange auf seinen Rücken. Reite langsam los.
«Verrückte!», höre ich hinter mir herrufen. Wieder und wieder. Mehr als eine Stimme. Drehe mich nicht um. Treibe bloß Blakkur an, um den Rufen so schnell wie möglich zu entkommen.
Vigfús ist verärgert. Ingi will die Kinder auf dem Hof verprügeln, dem Hahn den Hals umdrehen und das Kalb in der Jaucherinne ertränken. Er sitzt bei mir am Bettrand und schlägt die geballten Fäuste gegeneinander. Ich bitte ihn, nichts Dergleichen zu tun. Dann bestünde die Gefahr, dass jemand böse zu Þorgerður werde. Doch Ingi hört nicht zu. Wenn jemand die Wut an seiner Schwester auslasse, werde er auch noch die Kuh töten. Ich kann nicht anders, als im Stillen zu schmunzeln. Es tut gut, über Ingi meine eigene Wut loszuwerden. Jetzt glänzen seine roten Locken in der Herbstsonne, und das schmutzige Gesicht ist voller Sommersprossen.
Wieder und wieder sage ich Vigfús, dass ich die Kinder zu Hause haben möchte. Und zwar sofort. Þorgerður soll keine Stunde länger auf diesem Hof bleiben. Er arbeitet immer noch im Osten der Gegend. Sagt, dass er täglich bei dem Mädchen vorbeischaue und es ihm nicht schlecht gehe.
Die Wut kocht in mir. Wieso zum Teufel hört er nie auf das, was ich sage? Ich bin immer noch die Mutter seiner Kinder. Ist es etwa Guðbjörg, die ihn anzieht? Kein Wunder, dass er sie täglich besucht! Armseliger Kerl – ist mit einer Verrückten verheiratet und tröstet sich mit einer x-beinigen Schlampe.
Wenn ich wütend bin, geht es mir besser, dann kommen mir nicht so schnell die Tränen. Vigfús bemüht sich nach Kräften, mich aus dem Bett zu kriegen, und er tut, als wäre nichts geschehen, doch ich schaue einfach durch ihn hindurch. Und lache. Dann wird er unsicher. Weiß nicht, wie er mit mir umgehen soll. Wieso sollte er auch alles allein entscheiden?
Der charmante Mann, den die ganze Gegend bewundert, hört nicht auf seine Frau. Jetzt höre ich ihn auf der Treppe. Trotz der Krankheit habe ich noch eine schöne Stimme und halte die Töne.
Über des Meeres Saale
kaum Tageslicht noch scheint.
Es dunkelt in jedem Tale,
ein’ Ros’ Tautränen weint.
Ich sitz’ und schicke einsam
die Trauer fort, in sanftem Wind,
der sacht mich weht zum Ozean,
sehnsüchtig wie ein Kind.
Welle, liebe Welle,
dein Brausen im Ohr so zart,
Welle, leichte Welle,
mein einzig’ Kamerad.
Vigfús dreht um, doch ich singe das Lied wieder und wieder, Sopran und Alt. Es ist ein so wunderschönes Lied.
Guðbjörg vom Básar-Hof ließ gestern nach Vater schicken. Sie sagte, dass sie nicht riskieren wolle, Þorgerður noch länger bei sich im Haus zu haben, weil ihre Kinder sich so vor Mutter fürchten würden. Idioten! Mutter, die zu allen Kindern lieb ist! Guðbjörg sagte, dass sie nicht vergessen könne, wie sie den halben Tag auf ihrem Hof gesessen und sie nicht mehr hinausgelassen habe. Sie sei zu Tode geängstigt gewesen, so allein und schutzlos mit den Kindern. Was hat sie? Mutter wollte bloß Þorgerður sehen.
Sie bat Vater um Entschuldigung, sagte, dass er ein Ehrenmann sei, es aber trotzdem so sein müsse.
Dann kam Þorgerður nach Hause, kroch gleich zu Mutter ins Bett und weicht seitdem nicht mehr von ihrer Seite. Jetzt müssen wir nur noch Jón zurückholen! Anna will versuchen, Vater dazu zu bewegen, ihn gemeinsam mit ihr abzuholen. Sie kann ihn am besten bequatschen. Neckt sich gerne mit ihm.
Es geht mir gleich besser, als Þorgerður zurück ist. Ich stehe rasch auf und kümmere mich mit Katrín um den Haushalt. Sie ist so fleißig. Ich erlaube ihr, abends an meiner Maschine zu nähen, und zeige ihr, wie das geht. Wir beide genießen es, doch Vigfús meckert darüber, dass wir so trödeln. Regt sich darüber auf, dass ich nicht ins
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