Im Schatten des Vogels
sofort antwortest: «Nein – es sei denn, Mutter kommt mit.»
Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Er umarmt dich und flüstert: «Kleine Nichte!»
Seine Kleider riechen gut, und du hoffst, dass er dich bis in alle Ewigkeit so hält. Doch da lässt er dich los, zieht einen Umschlag aus der Tasche und gibt ihn dir. Darin ist seine Adresse in Oslo.
«Katrín, ich muss Nachricht über deine Mutter bekommen, wenn sie wieder zu Hause ist. Dir traue ich am meisten zu, sie zu schicken.»
Du hörst ihm zu und drehst den Brief in deinen Händen. Dann klimperst du mit den Augen, damit er die Tränen nicht sieht. Versuchst, zu lächeln. Freust dich über das Vertrauen, das er dir schenkt. Er kneift dir in die Wange, nimmt den Milcheimer, und ihr geht Hand in Hand ins Haus. Du hast einen Kloß im Hals, und deine Brust ist voll Kummer.
In aller Herrgottsfrühe ziehen wir los, haben einen langen Tagesmarsch vor uns. Alle sind noch schläfrig. Diesmal wird nicht so viel geweint wie beim letzten Mal, als ich gegangen bin. Trotzdem will Þorgerður mich nicht loslassen, Jón versucht, zu mir aufs Pferd zu klettern, und Ingi verschwindet hinter dem Stall, nachdem er mich innig und lange umarmt hat. Mein Sattel ist wiederaufgetaucht, Vigfús hebt mich aufs Pferd, und wir sind bereit zum Aufbruch. Die Gruppe steht auf dem Hof und winkt. Die Magd, die bisher bei Einar war, ist jetzt zu uns gekommen. Sie ist ledig, plump und mopsig. Obwohl sie viel jünger ist als ich, glaube ich nicht, dass Vigfús mit ihr anbändelt. Beim Gedanken an die beiden zusammen lache ich.
Wir treiben die Rösser an. Ingi flitzt über den Hof und rennt den Pferden hinterher. Einen Moment lang hält er mit uns Schritt, dann wird er langsamer. Sein rotes Haar glüht im Sonnenschein, er ist ganz außer Atem. Winkt!
Wie gut es ist, Pétur Jakob und Einar bei sich und ein Treffen mit Gunnhildur und Þórarinn vor sich zu wissen – und trotzdem fange ich sofort an, die Kinder zu vermissen. Drehe mich wieder und wieder um und winke, bis wir so weit weg sind, dass ich sie nicht mehr sehen kann.
Am Schloss machen wir kurz Rast. Auf dem Weg sehe ich Papa in Reisekleidung auftauchen. Dann löst er sich auf. Ach, jetzt habe ich schon wieder alles durcheinandergebracht. Steige nicht vom Pferd, doch Ingunn kommt mit einer Tasse Kaffee nach draußen und gibt sie mir. Ich wandere mit den Augen hinauf zur Elfensenke und zur Schlucht am Wasserfall. Flehe Hulda im Stillen an, bei uns zu sein, wenn wir die Flüsse durchqueren.
Wir haben vor, nicht allzu spät in unserem Nachtquartier westlich des Gletscherflusses anzukommen. Nach einem Ritt über unebenes Gelände und Geröllflächen erreichen wir den Fuß des Gletschers. Eines der Pferde sinkt tief im Schlamm ein, und es erweist sich als schwierig, das Tier wieder herauszuziehen. Mein ganzer Körper schmerzt vor Müdigkeit und hält sich kaum noch auf dem Pferderücken. Blicke mit Schrecken zur Gletscherflut. Schaue dann meine Brüder an, groß und stattlich. Werde ihnen vertrauen. Denke an Papa, der jahrelang mit anderen die Flüsse durchquert und mir viele Geschichten von diesen Reisen erzählt hat. Einar reitet am Fluss entlang. Er bleibt dicht neben mir und merkt, wie sehr ich mich fürchte. Verbietet mir, in den Strom zu gucken. Verbietet mir, die Zügel anzurühren.
«Engel, sieh einfach nur mich an», sagt er und versucht zu scherzen. Ich fixiere ihn und sage ununterbrochen meine Gebete und Bibelverse auf. Das Wasser reicht den Pferden bis zur Mitte der Flanken, und wir werden klitschnass. Jetzt gesellt sich zur Furcht noch die Kälte. Eisschollen treiben umher, und wir müssen ihnen ausweichen. Ich habe keine Kontrolle über mich, will runter vom Pferd und mache Anstalten abzuspringen, doch Einar schreit: «Sitz still!»
Gelähmt vor Furcht tue ich, was er sagt. Gleichzeitig spüre ich kräftige Hände, die mich in den Sattel drücken. Am anderen Ufer spüre ich sie nicht mehr.
Ich fühle mich so schlecht, dass ich kein Wort herausbringe, zittere bloß vor Beklemmung und Kälte. Denke voll Zärtlichkeit an die Stelle, wo die Hände waren. Wünschte, dass sie immer noch da wären.
«So, Engel, trink das!» Pétur Jakob lässt mich etwas aus einer Flasche trinken, das mich wärmt. Und ich fange michwieder. Will mehr davon, bekomme aber nichts mehr. Wir erreichen den nächsten Hof, wo wir ins Trockene gehen. Man gibt uns Kaffee. Ich bin so erschöpft, dass ich nach der halben Tasse im Sitzen in tiefen
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