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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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das Heideland rund ums Haus, ruhen uns auf glatten Felsen aus, und Gunnhildur macht mich auf den Berg Keilir aufmerksam.
    «Ist er nicht schön?», fragt sie.
    Ich nicke. Sage nichts über die Berge hier um Reykjavík, habe sie nie wirklich gemocht und merke, dass es auch jetzt nicht viel besser geworden ist.
    «Es ist lange her, dass du bei uns im Osten warst. Vermisst du nicht den Gletscher?»
    «Nein», antwortet sie. «Nein und ja. Ich vermisse ihn, bin aber froh, dass ich gegangen bin. Dort hätte ich nicht überlebt.» Ihre Stimme zittert.
    Ich schaue sie an. Sehe meine kleine Schwester, den Wildfang, der an die Mädchenschule kam, weil man mich wegschickenmusste, damit ich meine Liebe vergesse. Die Schwester, die nicht auf dem Land leben und von Papa bestimmt werden wollte. Wir sitzen schweigend, in Gedanken versunken. Doch die Sonne wärmt nicht. Ich habe eine Gänsehaut auf dem Rücken. Gunnhildur steht auf, hilft auch mir hoch und sagt: «Vielleicht hättest auch du gehen sollen, Engelchen?»
    Ich antworte nicht, blicke zum Keilir und schweige. Dann geht sie energisch los und zieht mich hinter sich her.
    Der Arzt ist die Ruhe in Person. Er und Gunnhildur kennen sich flüchtig. Sie hat meine Medikamente dabei, und der Arzt sieht sie sich an. Er schüttelt verärgert den Kopf. Will mehr wissen. Wo war ich vorher? Ich kann kaum etwas sagen, erinnere mich bloß, dass ich mich erholt habe und es mir im Westbezirk gut ging, unter all den Leuten, dass ich Orgel gespielt, gesungen und an der Nähmaschine gearbeitet habe. Dass ich Kräutersud getrunken und Gemüse gegessen habe. Teil des Haushalts war. Ich versuche, es ihm zu erzählen. Antworte wie ein Dummkopf, sage dann nichts mehr. Lasse Gunnhildur reden.
    Der Arzt ist kurz angebunden, möchte mich vorerst nicht einweisen. Möchte abwarten, gibt mir aber einen weiteren Termin und ein neues Medikament. Behält die alten.
    «Aber die haben viel Geld gekostet», sage ich. «Soll ich sie nicht aufbrauchen?»
    «Das ist vollkommen unsinnig», antwortet er bloß und steht auf. Damit ist die Sache erledigt. Wie gut, dass Vigfús nichts davon erfährt, denke ich und stehe ebenfalls schnell auf. Wie entsetzlich arrogant dieser Mann ist!
    Gunnhildur nimmt das Rezept, bezahlt den Arzt und führt mich hinaus. Ich bitte sie, mit mir zum Haus von MadamPoulsen zu gehen, möchte sie sehen, jetzt, da ich in der Stadt bin.
    An der Haustür steht ein neuer Name. Madam Poulsen ist weggezogen oder tot. Und ich dachte schon, dass diese Frau für immer und ewig im Þingholt-Viertel leben würde. Dass sie viele Menschenleben lang Orgel unterrichten und Dänisch sprechen würde. Jetzt ist sie fort, und ich konnte mich nicht von ihr verabschieden. Konnte ihr nicht sagen, dass ich weitergeübt, mich am zweiten Band der Harmoniumschule abgerackert habe, aber nie so weit gekommen bin, wie ich wollte. Nicht die Konzerte gegeben habe, die ich geben wollte, nicht das Pedalspiel gelernt.
    Gucke auf das Türschild mit einem unbekannten Namen und breche in Tränen aus. Gunnhildur nimmt mich in den Arm. Wir machen uns Hand in Hand auf den Heimweg, gehen langsam und ruhen uns unterwegs oft aus.
    Die neuen Medikamente beginnen zu wirken, und ich lerne, mit dem Arzt umzugehen. Doch das braucht Zeit. Er ist förmlich und ziemlich langweilig. Einmal schlage ich ihm vor, sich eine Orgel zu besorgen und mit den Patienten zu singen. Oder eine Nähmaschine zu kaufen und sie während des Gesprächs nähen zu lassen. Weiße Behandlungszimmer wie seines brächten die Leute nicht gerade dazu, den Mund aufzumachen. Was hat mich da geritten, dass ich so etwas von mir gegeben habe? Einem wildfremden Mann gegenüber?
    Er sieht mich verdutzt an, der feine Herr, als hätte er noch nie etwas so Komisches gehört. Dann prustet er los und lacht laut und lange. Seitdem bin ich seine kleine Schneiderin, und wir kommen besser miteinander aus.
    Wenn ich mich umgucke, sehe ich, dass sich die Mode gewandelt hat. Gunnhildurs Kleider sehen anders aus als die, die ich trage. Es hat ganz den Anschein, als würde ich hinterherhinken. Und wenn ich es recht bedenke, nähe ich immer noch die alten Mädchenschulenschnitte. Das sage ich zu Gunnhildur und bin aufgebracht. Finde, dass sie mir Zeichnungen und Bilder hätte schicken können. Mich am Ende der Welt auf dem Laufenden hätte halten sollen.
    «Liebstes Engelchen», sagt sie und nimmt mich in den Arm. «Es spielt keine Rolle, was du trägst. So gertenschlank wie ein junges

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