Im Schatten des Vogels
Hoffräulein. Alles tanzt nach ihrer Pfeife, und sie kommt damit durch, der einzige Mensch, der Vigfús dazu bringen kann, alles für sie zu tun. Jón – ein Stich in meinem Herzen, Papas Namensvetter. Ich weiß noch, wie stolz er war, als er den Jungen auf dem Arm hielt. Und Þorgerður, das halbe Portiönchen. Ach, wie sehr ich mich darauf freue, sie wiederzusehen. Sie ist so sanft und verschmust. Auch Guðmundur ist dort, mit Sternen unter den durchsichtigen Lidern – Sterne, die nie gefunkelt haben. Der Junge, der ging, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ja, ich bin zweifellos reicher als Gunnhildur. Da durchströmt es mich warm.
Wir gehen in Konzerte und sehen uns Theateraufführungen im Zunfthaus an. Und ich besuche Messen in der Dómkirkja. Dort gibt es jetzt eine Orgel mit Pedalspiel. Die Töne sind wundervoll. Ich sitze auf der Empore und starre wie hypnotisiert den Organisten an. Würde ihn so gerne um Erlaubnis bitten, einmal selbst spielen zu dürfen, halte mich aber zurück.
Sitze stundenlang an der Nähmaschine und nähe ein Kleid für mich. Fange mit einem weiteren an. Alles geht mir leicht von der Hand. Wenn ich Einars Maße hätte, könnte ich auch mit seinen Kleidern anfangen, doch damit warte ich noch. Gunnhildur schleppt mich unermüdlich mit auf Spaziergänge, sagt, dass ich viel draußen sein müsse. Das rege den Appetit an. Sie kocht viel und gut. Ich kann ein Lächeln nicht verkneifen. Vigfús müsste all das Fleisch sehen, das in diesem Hause verspeist wird. Er würde gleich sagen, dass sie ja auch alle zu gut dabei seien!
Im Haus gibt es ein Mädchen, das putzt und aufräumt.Gunnhildur ist sprachlos, als ich ihr erzähle, dass ich keine Magd haben möchte. Erinnert sie sich denn nicht mehr an die Mädchen daheim? Und wie Papa mit ihnen umgesprungen ist? Sie guckt entrückt und sieht mich seltsam an, als sie antwortet: «Unser Papa war schon ein wenig speziell.»
Ich will ihn sofort verteidigen, zu ihm halten, als Gunnhildur weiterspricht: «Vigfús würde dich nie betrügen.»
Ich vergesse Papa und freue mich über Gunnhildurs Versicherung. Erwähne nichts, sage ihr nicht, dass ich abends daliege und an Vigfús und die plumpe Magd denke. Möchte bloß glauben, was sie sagt.
Der Arzt ist zufrieden mit meinen Fortschritten. Er sagt, dass ich nach Hause könne, aber nicht vergessen dürfe, die Medikamente zu nehmen. Keinen einzigen Tag. Ich würde ihn so gerne fragen, ob es nicht doch besser wäre, wenn ich noch ein wenig länger in Reykjavík bliebe. Nur zur Sicherheit! Ich könnte ihm auch sagen, wie gut es mir hier geht. Sollte ich ihm sagen, dass ich in meinen Träumen hierher gezogen bin und nicht wieder nach Hause in die Einöde möchte? Ich tue es nicht, bringe kein Wort heraus, als hätte ich komplett die Sprache verloren.
Es stellt sich heraus, dass ein Dampfer auf dem Weg in den Osten ist, und Gunnhildur weiß von einem verlässlichen Mädchen, das mitfahren wird. Sie wird es bitten, mir behilflich zu sein. Gunnhildur möchte Einar die Nachricht persönlich übermitteln, denn nun ist es möglich, zwischen den Landesvierteln eine Telefonverbindung herzustellen. Dann kann er mich, wie besprochen, am Hornafjord abholen. Mit einem Mal hat man alles für mich entschieden.
Der Vogel regt sich, und die Angst hat Einzug gehalten.
Am letzten Tag gehe ich ins Kaffeehaus im Stadtzentrum. Ich bin allein und nehme mir Zeit, trinke Schokolade und esse ein Stück Sahnetorte. Währenddessen überlege ich, ob Sveinn und ich wohl so in Kopenhagen in Kaffeehäusern gesessen hätten und immer glücklich gewesen wären. Wäre ich nicht krank geworden? Wäre ich der Angst und den Seelenqualen entkommen? Wieso bin ich erkrankt? Diese Gedanken nehmen mir alle Kraft. Ein Toter ist auferstanden und verzerrt das Bild. Weshalb musste er jetzt so auf mich einstürzen, da alles zu spät ist?
Dann stehe ich auf, bezahle und werfe Bertel und Maria auf der Austurvöllurwiese einen Abschiedsgruß zu. Überlege, wann ich sie wohl das nächste Mal sehen werde. Versuche, mir vorzustellen, dass ich Maria bin. In Wind und Wetter leicht bekleidet an Bertels Seite. Wäre ich vom Sockel gestiegen? Meinen eigenen Weg gegangen? Da lächelt Maria mich an, nur einen winzigen Moment lang, aber es ist ein strahlendes Lächeln.
Ich gehe langsam nach Hause und verabschiede mich vom zweistöckigen Holzhaus, das nun seine rote Farbe verloren hat. Es ist abgeblättert und kahl, der Zaun kaputt, die Gardinen zerschlissene
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