Im Schatten des Vogels
fauche ich durch die zusammengebissenen Zähne, gucke ihn aber nicht an.
«Der Tod wollte mich nicht», antwortet er, ohne zu zögern.
«Du hast alles verraten, was du nur verraten konntest!», fauche ich. «Sogar Gemeindevorsteher bist du geworden!» Die Worte ersticken in meinem Hals, als ich versuche, ironisch zu klingen.
Vielleicht lächelt er, das habe ich im Gefühl, schaue aber nicht auf. Merke, wie lähmend müde ich bin, doch hier werde ich keinen Augenblick länger bleiben. Schere mich weder ums Wasser noch um die Molke. Verpasse dem Ross einen Schlag.
«Engel!», bittet er und versucht, mich zu bremsen. Ich höre, wie Pétur Jakob sich einmischt, und wahrscheinlich sind noch mehr Menschen nach draußen gekommen. Blakkur und ich galoppieren vom Hof. Sehe nichts vor Tränen.
Ich habe schon ein ganzes Stück zurückgelegt, darf aber keine Zeit verlieren. Schaue nicht nach rechts und links. Habe nirgendwo Rast gemacht, bin weder durstig noch müde. Habe den Bauernhof am steilen Hang nie gesehen, bin dem Mann mit braunen Augen und Glatze nie begegnet. Habe den Auferstandenen auf jenem Hof nicht getroffen. Bin niemals dort gewesen.
Da sehe ich sie aus dem Augenwinkel, klein und kräftig steht sie da und lächelt. Hulda! Eng stehende Augen und ein meergrünes Gewand. Ich kenne das Lächeln und spüre, wie es wärmt, möchte zu ihr, sie um Rat fragen – doch Hulda wartet nicht. Ich presse dem Pferd die Schenkel in die Seiten, und der Abstand zwischen uns verringert sich. Doch dann ist sie verschwunden. Noch einmal taucht sie auf. Ich schlage das Ross und reite wie um mein Leben. Will zu Hulda, muss zu ihr.
Nach der Ankunft in Reykjavík stehe ich tagelang nicht auf. Die Müdigkeit hat mich besiegt. Liege gequetscht unter dem Vogel, der mich vom Sprechen abhält. Gunnhildur und Þórarinn lassen mir Zeit, um mich einzugewöhnen. Pétur Jakob auch.
Seit ich Sveinn begegnet bin, habe ich an kaum etwas anderes als ihn gedacht. An uns beide. Mal will ich mehr wissen, mal ist er weiter tot. Doch ich werde die Wut nicht los. Der Gedanke an das, was hätte sein können, lässt mich nicht in Frieden. Unsere Kinder. Das Zuhause, das wir haben wollten. Die Lieder, die nie gesungen worden sind. Wenn ich mich in diesen Gedanken aufhalte, bin ich nicht ans Pferd gefesselt. Die Sonne scheint, ich trage ein schönes Kleid, habe hochgesteckte Haare und lächle übers ganze Gesicht, sodass die Grübchen zur vollen Geltung kommen. Und Sveinn hat auch keine Glatze. Dann befällt mich tiefe Abscheu. Und Hass dem gegenüber, der alles verraten und mich zurückgewiesen hat.
In anderen Träumen tauchen meine Kinder auf. Ohne sie hätte ich nicht sein wollen. Mit Sveinn hätte ich sie nicht gehabt. Doch ich hätte andere Kinder. Sie kommen im Sonnenschein zu mir, sitzen an der Orgel und spielen, gekämmt und wohlerzogen. Plötzlich taucht Ingi auf, schmutzig und grinsend. Er stört das Bild, doch ich lächle, und es durchströmt mich warm.
Wenn ich vor mich hin döse, ist Hulda bei mir, manchmal sitzt sie am Bettrand und hält meine Hand. Sagt, dass man in der Menschenwelt nur wenigen trauen könne. Ich öffne die Augen, und sie ist verschwunden.
Als Blakkur und ich von Sveinns Hof galoppiert sind, hat Pétur Jakob keine Anstalten gemacht, mich aufzuhalten. Er kam mit einer Flasche Molke hinter mir her, die er mir gab, doch ich würdigte sie keines Blickes. War nicht durstig. Wollte bloß schnell weg. Wollte nicht reden. Mein Bruder sagte mir immer wieder, dass er keine Ahnung gehabt habe, wer der Gemeindevorsteher sei. Sonst wäre er dort nicht hingeritten, doch ich tat, als würde ich ihn nicht hören. War nicht bereit, darüber zu reden. Schwieg tagelang. Pétur Jakob band mich auch weiterhin am Pferd fest, weil ich immer wieder einschlief. Er war lieb zu mir, versuchte, mich mit neuen Geschichten aus Rom aufzuheitern, doch es war, als hätte alles seine Farbe verloren. Ich war abwesend und uninteressiert. Sogar die großen Ströme konnten mich nicht mehr schrecken. Wollte nur noch nach Reykjavík und schlafen.
Pétur Jakob hat eine Fahrt auf einem Dampfer gebucht, der in ein paar Tagen ausläuft. Die Sonne scheint, und nun stehe ich auf. Gunnhildur und Þórarinn wohnen im Westen der Stadt, im oberen Stock eines schönen Hauses. Ich nehme mir viel Zeit, mich zu kämmen und hübsch zu machen, stecke das Haar hoch und ziehe ein schönes Kleid an. Dann laufen wir hinunter in die Stadt, wir Schwestern haben Pétur Jakob
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