Im Schatten des Vogels
Mädchen siehst du immer blendend aus!»
Doch ich lasse mich von ihr nicht aus dem Konzept bringen. Begreift sie nicht, dass ich auf dem neuesten Stand sein muss? Wissen muss, was gerade in Mode ist – selbst wenn ich im Moment nichts für die Nachbarschaft nähe. Sie gelobt Besserung, wird mir Schnitte und Zeichnungen schicken.
Je mehr ich mich erhole, desto größer wird die Anziehungskraft der Stoffläden. Dort kann ich ganze Tage verbringen, Stoffe angucken, Ballen befühlen und über Spitzen und Seidenbänder streichen. Am liebsten würde ich alles kaufen, mit nach Hause nehmen und nähen. Ich habe schon einen schönen dunkelblauen Stoff für Einars Kleidung entdeckt. Und auch Katrín muss ein Kleid bekommen. Sie sieht überhaupt nicht, wie hübsch sie ist, vergleicht sich mit Prinzessin Anna, die ihr immer die Schau stiehlt. Alle müssen etwas bekommen. Und auch ich selbst hätte nichts gegen ein modern geschnittenes Kleid. Doch dafür habe ich kein Geld.
Am Abend vor seiner Abreise hat mir Pétur Jakob ausländische Scheine gegeben. Mich gebeten, etwas Hübsches zu kaufen, tüchtig und stark zu sein. Doch ich habe beschlossen, das Geld für Einars Kleidung zu verwenden. Das hat er verdient,für all die Kaffeebohnen, die er mir im Laufe der Zeit zugesteckt hat.
Ich wende mich an Þórarinn, sage ihm, was ich kaufen möchte. Er guckt auf die Scheine von Pétur Jakob und wechselt die Farbe. Sagt, dass das viel Geld sei. Ich kann in Hansens Magasín einkaufen und bekomme über Þórarinn Rabatt. Ich drücke ihn an mich. Doch er sieht mich seltsam an und fragt:
«Weißt du, was Pétur Jakob arbeitet?»
«Er ist Tischler», antworte ich.
«Tischler? Bei dem Vermögen?»
Verbirgt sich hinter der Frage etwa eine gewisse Provokation? Ich antworte nicht. Habe Pétur Jakob nie gefragt. Er hat das Tischlern gelernt und ist nach Rom gegangen. Das ist alles, was ich weiß. Und er wird meinem Jungen die Schule bezahlen. Darüber verliere ich kein Wort.
Ich hätte nicht gedacht, dass es in Reykjavík so schön sein kann. Ich sehe die Stadt in neuem Licht. Die Angst ist gewichen und die Müdigkeit auf dem Rückzug. Die Angst los zu sein ist das Beste von allem. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Sie ist schon so lange da gewesen. Die neuen Medikamente sind wahnsinnig teuer, doch der Arzt sagt, dass ich sie nehmen muss. Gunnhildur streckt das Geld vor und schickt Vigfús die Rechnung. Sie will nicht, dass ich das Geld von Pétur Jakob dafür ausgebe. Sagt, dass ich nicht darüber reden und es für mich genießen solle.
Nicht weit von uns steht ein zweistöckiges Holzhaus mit spitzem Dach. Dort rührt sich nie etwas. Wenn ich allein bin, bleibe ich vor dem Haus stehen und träume vor mich hin. Tauschedie Gardinen aus, hell und luftig sollen sie sein, lege einen Gemüsegarten hinter dem Haus an, und im Vorgarten pflanze ich Bäume. In Reykjavík gibt es viele schöne Gärten. Wahrscheinlich streiche ich das Haus rot und repariere den kaputten Zaun. Streiche ihn vielleicht weiß, das sieht so hübsch aus. Dann ziehe ich mit den Kindern ein, mit der Orgel und der Nähmaschine. Mehrmals in der Woche essen wir Fleisch, und ich verdiene durchs Schneidern unseren Lebensunterhalt. Papa ist da, und Hulda ist in einen Stein mitten im Garten gezogen. Abends bringe ich ihr Milch. Mutter ist in der Küche, und der Duft von Kaffee zieht durchs offene Fenster.
Diese Träume sind so schön, dass ich bis zu beiden Ohren lächle oder laut vor mich hin lache. Dann schaue ich mich schnell um, hoffe, dass mich niemand bemerkt hat, und gehe weiter.
Es tut gut, mit Gunnhildur und Þórarinn zu lachen. Wo ich doch überhaupt nicht mehr gelacht habe. Manchmal schießen mir aber auch mitten in einer Lachsalve die Kinder in den Sinn. Sie rufen mich, und ich verstumme. Muss schnell zu ihnen in den Osten. Dabei ist es so schön hier. Ich bringe es nicht über mich zu fahren.
Gunnhildur und Þórarinn haben zwei Kinder, Brynjólfur und Halldóra. Wie hat sie es bloß geschafft, nicht ständig schwanger zu werden? Ich würde sie gerne fragen, halte mich aber zurück. Ich kann ohnehin keine Kinder mehr bekommen, bin bloß neugierig. Ob Gunnhildur bei der Hebammenausbildung einen Trick gelernt hat? Und trotzdem – Stefán und Katrín allein wären mir nicht genug gewesen. Ohne die anderen wäre das Haus ziemlich leer.
Ich lächle, als ich an Ingi denke, stets zum Kampf bereit,wenn es Konflikte gibt. Sehe Anna vor mir, das kleine
Weitere Kostenlose Bücher