Im Schatten des Vogels
zwischen uns. Müssen ein ganzes Stück laufen und genießen es, zusammen zu sein. Gunnhildur erzählt uns von Páll Jósúa. Er ist Lehrer in Akureyri und kommt selten nach Reykjavík. Sehnsucht befällt mich. Wann habe ich meinen kleinen Bruder zuletzt gesehen?
Þórarinn arbeitet immer noch in Hansens Magasín, und wir besuchen ihn.
Die Stadt ist kaum wiederzuerkennen. Sie hat sich in alle Richtungen gestreckt. Es gibt jetzt eine neue Mädchenschule, ein prächtiges Steinhaus in der Nähe des Tjörnin, des Stadtsees. Ich habe keine Lust, sie mir genauer anzusehen. Gucke hoch zu den Fenstern des alten Wohnheims, und sofort befällt mich Platzangst. Halte kurz bei Bertel und Maria. Sie sind noch an ihrem Ort, und er sieht noch genauso melancholisch aus.
Pétur Jakob lädt uns in ein Kaffeehaus im Stadtzentrum ein. Er bestellt Sahnetorte und Schokolade. Eine Frau in schwarzem Kleid mit weißer Schürze und Haube auf dem Kopf bringt alles auf einem Tablett. Ich lehne mich zurück, der Sitz ist weich, ich sinke hinein, lasse die Augen zufallen und genieße es, in Rom zu sein.
Wir sind allein in Gunnhildurs Wohnstube. Pétur Jakob verspricht, Stefán zu helfen. Er will auch Vigfús schreiben und die Sache erklären. Wollte das neulich bei uns auf dem Hof nicht auch noch ansprechen, fand, dass es schon genug war. Ich sitze da, die Augen voller Tränen.
«Kann ich darauf vertrauen?»
«Selbstverständlich kannst du das», antwortet er und streichelt über meine Wange.
«Du weißt gar nicht, wie wichtig mir das ist», flüstere ich.
Wir halten uns an den Händen und flüstern uns zu, erzählen einander die geheimsten Gedanken und verabschieden uns in Wirklichkeit schon jetzt, obwohl das Schiff erst am nächsten Abend ausläuft.
Ich starre weiter, rühre mich nicht von der Stelle. Erkenne nicht mehr, wer auf Deck steht. Viele Menschen sind am Pier gewesen, doch nach und nach hat es sich geleert, und jetztsind nur noch wenige da. Þórarinn ist ungeduldig, zerrt an Gunnhildur. Muss am nächsten Morgen früh aufstehen.
Als ich Pétur Jakob zum letzten Mal umarmte, hatte ich das Gefühl, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. Obwohl wir über die Möglichkeiten gesprochen hatten, dass ich mit Stefán ins Ausland reise und Pétur Jakob mit seiner Familie zu Besuch kommt. Ich sah ihn noch ein letztes Mal an, prägte mir seine Gesichtszüge ein, streichelte über seine Wange und durchs dicke Haar. Küsste seine Hände. Dann ging er.
Ich schlucke die Tränen runter, lasse mich von Gunnhildur vom Pier führen, gucke aber immer wieder zurück und winke, obwohl der Dampfer längst in der Dunkelheit verschwunden ist. Verschwinde unter der Bettdecke, glaube, dass ich nie wieder aufstehen kann.
«Jetzt ist es aber langsam gut», sagt Gunnhildur und schiebt entschlossen die Vorhänge zur Seite. «Du kannst nicht wochenlang nur im Bett liegen.»
Das Licht ist grell, und ich krieche noch tiefer unter die Decke. Doch Gunnhildur gibt keine Ruhe, setzt sich an den Bettrand und will, dass ich mich aufrichte. Ich murmele irgendetwas aus der Versenkung. Sie stürmt davon, ich glaube schon, dass sie mich jetzt in Frieden lässt, doch dann kommt sie mit einem Tablett zurück und stellt es auf den Nachttisch.
«Setz dich nun auf», sagt sie bestimmt und schiebt mir ein stützendes Kissen in den Rücken. Der dampfend heiße Kaffee wärmt. Ich lasse mich von Gunnhildur wie ein Kind füttern und gucke sie dabei an. Sie hat mit den Jahren zugelegt, ist nicht mehr direkt schön, aber immer zurechtgemacht. Und viel energischer als früher. Unwillkürlich betaste ich meinen Kopf, merke, wie zerzaust und wuschelig ich bin.
«Ist es nicht schlimm, mich so zu sehen?», flüstere ich.
«Ich habe dich schon in besserem Zustand gesehen», antwortet Gunnhildur bloß. Dann lacht sie. Ein Lachen kommt ihr immer leicht über die Lippen.
«Du musst dich bewegen und essen, kannst nicht wie ein Gespenst beim Arzt aufkreuzen.»
«Beim Arzt?»
«Ja, morgen gehst du zu ihm, und ich komme mit.»
«Ich schaffe es nicht aus dem Bett», sage ich und rutsche wieder unter die Decke.
«O doch, das tust du», antwortet sie und zieht mich wieder hoch. «Jetzt essen wir noch zu Ende und dann gehen wir nach draußen. Nichts ist so gut wie frische Luft!»
Ich laufe auf wackligen Beinen und stütze mich auf Gunnhildur, frisch gekämmt und gewaschen. Die Müdigkeit will mich unterkriegen. Doch die Luft ist klar, und es geht mir langsam besser. Wir schlendern über
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