Im Schatten des Vogels
Schlaf falle. Schrecke schreiend auf und schlottere wie verrückt. Trinke mehr Kaffee. Dann reiten wir weiter.
Es ist schon dunkel, als wir unser Nachtquartier erreichen. Einar hilft mir vom Pferd, und ich ziehe mich gerade noch mit letzter Kraft aus, bevor ich ins Bett falle. Habe auf nichts Appetit, bis auf einen Schluck Wasser. Glaube, dass ich nie wieder auf den Beinen stehen kann.
Am nächsten Morgen kann ich mich nicht bewegen. Pétur Jakob bringt mir Kaffee ans Bett, setzt sich und sagt, dass wir uns beeilen müssten. Die heutige Strecke sei kürzer und nicht so schwierig. Er ist entschlossen, und ich gehorche, stärke mich mit Kaffee und schaffe es aus dem Bett. Trotzdem sehe ich alles wie durch Nebel und stoße mich ständig. Die nassen Kleider sind getrocknet, und nichts hindert uns daran, aufzubrechen. Da streift mein Blick einen Spiegel, und ich sehe, dass ich ungekämmt bin. Ich löse die Zöpfe, bürste und kämme mein Haar. Trinke noch einen Schluck Kaffee, dann können wir los.
Einar will nach Hause, und Pétur Jakob und ich müssen uns allein durchschlagen. Ich weigere mich, ohne Einar weiterzureiten. Wer soll uns denn dann durch die Flüsse helfen?
«Vertraust du mir etwa nicht?», fragt Pétur Jakob lächelnd. Ich kann nicht anders, als zurückzulächeln, doch ich bin unruhig.
«Auf den schwierigsten Wegstrecken wird man euch begleiten»,sagt Einar. Dann fügt er hinzu: «Sorge dich nicht, Engel. Alles wird gut.»
Ich sehe die Brüder abwechselnd an und vergleiche sie. Einar ist hübscher, doch neben dem edel gekleideten Pétur Jakob sieht er ärmlich aus. Ich nehme mir fest vor, in Reykjavík guten Stoff zu kaufen und für Einar etwas Schönes zum Anziehen zu nähen, sobald es mir besser geht.
Dann trennen sich die Wege. Ich winke Einar noch lange nach, als er längst verschwunden ist. In Gedanken folge ich ihm in den Osten. Dass er bloß am Gletscherfluss auf sich achtgibt.
Da ich jetzt schon einmal im Westbezirk bin, möchte ich mich auch umsehen. Möchte den Hügel und die Elfenfrau finden, die einst ihren Fluch auf meinen Papa gelegt hat. Das erwähne ich Pétur Jakob gegenüber.
«Engel, du glaubst doch wohl nicht an diesen Blödsinn?», fragt er und lacht.
Ich könnte ihm von Hulda erzählen. Und von Papa in Reisekleidung draußen auf dem Hof oder im Gletscherfluss gestern, doch ich schweige wie ein Stein. Er denkt, dass ich wütend bin, dabei bin ich bloß müde. Die Sonne scheint, und mir ist stickig heiß. Bevor ich mich’s versehe, dämmere ich weg und rutsche aus dem Sattel.
Im Fallen wache ich auf. Steige wieder aufs Pferd, und wir reiten weiter. Kralle mich am Sattelhorn fest und will nicht einschlafen. Doch als ich ein weiteres Mal wegdämmere, bindet Pétur Jakob mich am Sattel fest. Ich habe das Gefühl, dass er mich einschnürt.
«Musst du das tun?», zetere ich und schlage mit den Händen um mich.
«Nun sei brav. So bist du viel sicherer. Und dann ist es auch in Ordnung, wenn du mal einnickst.» Ich finde, dass er recht hat. Todmüde döse ich im Sattel vor mich hin, und der Tag vergeht.
Ich wache aus einem Nickerchen auf und sehe, dass die Sonne schon tief am Himmel steht. Wir sind auf einem Hof, der an einem steilen Hang liegt. Jetzt bin ich hungrig und durstig. Und mein ganzer Körper tut weh. Ich freue mich darauf, die Glieder auszustrecken. Der Hof ist stattlich, der Sitz eines Gemeindevorstehers, sagt mein Bruder und springt vom Pferd. Er will um einen Schluck Wasser oder kalte Molke bitten.
An der Tür stößt er auf einen großen Mann. Ich habe das Gefühl, ihn zu kennen. Schließe die Augen. Öffne sie wieder. Es kann kein Irrtum sein. Die hohe Stirn, das ruhige Auftreten und die braunen Augen. Die Geheimratsecken sind zu einer richtigen Glatze geworden. All das kenne ich, hatte aber nicht damit gerechnet, es in diesem Leben noch einmal wiederzusehen.
Er kommt auf mich zu. Einen Moment sehen wir uns in die Augen. Dann blicke ich an mir selbst hinunter. Zerzaust und verschwitzt, wie ein Sträfling aufs Pferd gebunden. Ich drehe mich blitzschnell um. Wünsche mir, tot zu sein. Er läuft um das Pferd herum. Nimmt meine Hände. Und ich kenne die Stimme: «Engel!»
Schaue nicht auf, gucke bloß auf die zarten Hände, die Musikerfinger, die längst steif sein müssten. Und merke, wie mich der Groll packt. Unkontrollierbar.
«Engel», wiederholt er und drückt meine Hände noch fester. Oh, wie ich diese Stimme kenne.
«Warum zum Teufel bist du nicht tot?»,
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