Im Schatten (German Edition)
wurde sie plötzlich von Werner angeknurrt, der verschlafen im Türrahmen aufgetaucht war.
» Nein. Ich konnte nicht schlafen. Zieh dich an, ich mach schon mal Frühstück.«
Wie üblich verlief auch diese Mahlzeit schweigsam, und selbst wenn Valerie gern etwas daran geändert hätte, fiel ihr doch nichts ein, worüber sie reden sollte. So sagte sie nur, als sie fertig waren:
» Ich geh mal kurz in die Garage. Ich meine, da müssten noch Bilderrahmen sein. Ich will endlich die Bilder von den Kindern aufhängen.«
Werner brummte nur, ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
Mach’s gut , dachte Valerie und ging. Langsam stieg sie die Stufen herunter, ging über den Hof zur Garage. Den Schlüssel ließ sie stecken, während sie das Tor zuzog. Sie dachte an die Kinder, als sie auf die Getränkekiste stieg, um das Seil an dem Stahlträger zu befestigen. Ihre Hände waren dabei merkwürdig ruhig. Norman! Er würde sicherlich geschockt sein, wenn er davon erfuhr. Doch vermutlich würde er schnell darüber hinwegkommen, er war stark. Was wohl aus ihm werden würde? Nach der Ausbildung zur Bundeswehr, dann vielleicht über den zweiten Bildungsweg studieren? Zuzutrauen war es ihm. Katherine würde sehr leiden, doch Valerie war davon überzeugt, der Tod ihrer Mutter würde sie nur für eine kurze Zeit in ihrem zielstrebigen Handeln beeinflussen. Das Seil war fest und sie prüfte, ob es dem Druck standhalten würde. Werner! Vermutlich würde er sich nur darüber ärgern, dass er sich in Zukunft selbst um alles kümmern musste. Valerie steckte den Kopf durch die Schlinge. Was sie dort wohl erwartete, auf der anderen Seite? Es tat ihr leid um ihre Kinder. Die Vorstellung, sie nie wiederzusehen, schmerzte sie. Doch sie waren erwachsen, brauchten sie nicht mehr.
» Unsinn!«, sagte eine innere Stimme. »Du bist fünfundvierzig und brauchst deine Mutter immer noch.« Doch die Stimme wurde übertönt, von einem anderen Namen: Mark! Der plötzlich auftretende Schmerz ließ ihr Innerstes verkrampfen. Wie hatte sie nur auf ihn hereinfallen können? Sie hatte ihn so sehr geliebt und er hatte sie nur ausgenutzt, verletzt und sich über sie lustig gemacht. Der Strick scheuerte rau an der zarten Haut ihres Halses und die Unebenheiten der Kiste drücken durch die Schuhe hindurch ihre Fußsohlen. Er war ein gewissenloser Kerl, der sich ihrer bedient und sie dann weggeworfen hatte. Valerie spürte, wie ihr Tränen die Wangen herunterliefen und sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Aus! Vorbei! Sie würde ihm nie wieder die Chance geben, sie zu verletzen. Mit einem wackeligen, aber dennoch entschlossenen und wirkungsvollen Stoß schubste sie die Kiste unter ihren Füßen fort. Ein Ruck fuhr ihr in die Wirbelsäule und ein Schmerz in die Kehle, als ihre Füße haltlos ins Leere glitten. Von natürlicher Panik ergriffen japste sie nach Luft und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, doch die Kiste war unerreichbar. Ihre Hand griff instinktiv zur Schlinge, doch sie war zu fest, der Druck zu hoch. Der Kampf dauerte nur wenige Augenblicke. Dann überkam sie eine unnatürliche Ruhe. Der Schmerz ließ nach und stattdessen spürte sie die Erinnerung geliebter Hände auf ihrer Haut, die sie zärtlich streichelten, weiche Lippen umrahmt von kratzigen Bartstoppeln. Sie hörte ihn wieder die Worte bei ihrer letzten Vereinigung murmeln, immer wieder, als würde ein Tonband ständig zurückgespult und aufs Neue abgespielt. Zuerst waren die Worte noch unverständlich, doch mit jedem Mal wurden sie deutlicher, bis sie jede Silbe hörte:
» Meine Val«, hatte er geflüstert. »Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr.«
Und mit der unvermittelten Hellsichtigkeit einer Sterbenden erka nnte sie, er hatte die Wahrheit gesagt. Mark! Sie konnte nicht mehr schreien, nicht einmal mehr flüstern, und so verhallte ihr Flehen ungehört in der Dunkelheit. Zu spät!
*
» Sie hat es gewusst. Insgeheim hat sie es gewusst. Sie hat es in ihr Tagebuch geschrieben, dass sie es gespürt hat, wenn sie ›danach‹ in deinen Armen gelegen hat. Sie meinte, es wäre so, als wäre eine Maske von dir abgefallen.«
» Sie hatte recht. Es waren die schönsten Momente. Es gab nur uns zwei, und ich konnte sein, wie ich wirklich bin. Ich wäre verdammt gern richtig mit ihr zusammen gewesen.« Katherine lächelte schwach.
» Es wäre nicht gegangen. Es hätte einen Riesenskandal gegeben. Zwei Scheidungen, vermutlich mit einer ziemlichen Schlammschlacht. Skandal bei euch im
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