Im Schatten von Notre Dame
von meinem Gesicht, das eine zarte Hand mit einem angefeuchteten Tuch betupfte. Allmählich begriff ich: Der fürchterliche Traum war vorüber, das Hier und Jetzt war wiederhergestellt – ich war wieder ich!
Meine Erleichterung war gering. Zu eindringlich, zu lebensecht war mein Traum gewesen. Noch jetzt schien er mich gefangen zu halten wie ein Dämon der tiefen See, der seine kräftigen Fangarme aus dem Traumreich in die wirkliche Welt streckt.
Weitaus angenehmer erschienen mir da die weichen Arme meiner Pflegerin Colette. Während sie erneut mit dem feuchten Tuch über meine Stirn fuhr, lächelte sie mich aufmunternd an. Ich empfand Scham ob des schwächlichen Eindrucks, den sie von mir gewinnen mußte.
Und zugleich genoß ich es, wenn ihre Haut die meine streifte. Kleine, wohlige Schauer durchliefen mich, und nur zu gern hätte ich gewußt, ob sie das gleiche empfand.
»Wie geht es Euch, Armand?« fragte der neben ihr stehende Geistermönch mit einer Anteilnahme, die seinem abschreckenden Gesicht hohn sprach. Der Gedanke, daß ich im Bett dieses Wesens lag, verursachte mir einen neuerlichen Schweißausbruch. »Ich habe Euch wohl etwas zuviel zugemutet, als ich Euren Geist in die Vergangenheit sandte.«
»Ihr habt das getan?« krächzte ich mit trockener Stimme und war dankbar für die irdene Wasserschale, die Colette an meine Lippen hielt. »Warum?«
»Um Euch das miterleben zu lassen, was Euch, hört Ihr es nur aus meinem Mund, unglaublich erscheinen mag.«
»Mittlerweile erscheint mir nichts mehr unglaublich. Außerdem träumte ich nicht zum ersten Mal vom Montségur. Nur wußte ich vorher nicht, woher die Bilder meiner Träume stammen.«
»Was habt Ihr geträumt?« fragte der Geistermönch mit plötzlicher Erregung, die ihm einen Hustenanfall bescherte. »Seit wann habt Ihr diese Träume?«
»Seit ich im Nordturm von Notre-Dame lebe«, antwortete ich und berichtete über meine Träume.
»Seit Ihr Euch in Notre-Dame aufhaltet, also.« Er nickte versonnen und krallte plötzlich seine Hände mit schmerzhafter Härte in meinen linken Arm. »Hat Dom Frollo nicht seine geheime Zelle, seine Hexenküche, ganz in der Nähe der Euren?«
Ich bestätigte das und sagte ein wenig erstaunt: »Ihr seid gut unterrichtet.«
»Ob Frollo den Stein bereits in Händen hält?« Die Frage war nicht an mich gerichtet. Der Geistermönch blickte durch mich hindurch, blankes Entsetzen in den Augen. »Ob er Flamels Rätsel gelöst hat?«
»Das glaube ich kaum«, sagte ich und erzählte, wie ich Frollo am Grabmal Flamels und in dem verrotteten Haus des Alchemisten beobachtet hatte. »Und dann, bei der Zusammenkunft, als der Großmeister Frollo nach dem Sonnenstein fragte, antwortete der Archidiakon, er stehe kurz vor der Lösung des Rätsels.«
»Wovon sprecht Ihr, Armand, von welchem Großmeister, von welcher Zusammenkunft?«
»Das müsstet Ihr doch wissen, immerhin hat mich einer Eurer Männer, ein sehr guter Bogenschütze übrigens, vor den Templern gerettet.«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint«, erwiderte er. »Erzählt es mir der Reihe nach!«
Ich berichtete von meinem nur halb freiwilligen Eindringen in die Unterwelt der Cité-Insel und von dem Treffen der Tempelritter oder was immer sie in Wahrheit sein mochten. Hier in Paris war offenbar nichts das, was es schien; nicht einmal meiner selbst war ich noch ge-wiß.
»Ich hatte keine Kenntnis von der Versammlung und dem Ort, an dem sie stattfand«, sagte leise mein seltsamer Gastgeber. »Wer immer der Bogenschütze ist, er hat nicht in meinem Auftrag gehandelt.«
»So wenig wie der Schnitter von Notre-Dame, wie?« Mein Tonfall war höhnischer, als ich es beabsichtigt hatte, so verunsichert war ich.
»Glaubt Ihr mir nicht, Armand?«
»Was soll ich noch glauben, wenn niemand der ist, der zu sein er vor-gibt? Wenn Ihr selbst Gott und Satan in Frage stellt!«
»Nicht Gott und Satan, nur den falschen Glauben, den die Päpste verbreiten. Das Eingreifen des unbekannten Bogenschützen bedeutet, daß es nicht länger nur ein Spiel Weiß gegen Schwarz ist.«
Das verstand ich nicht und sagte es ihm.
»Erinnert Euch an das Banner der Templer, das Ihr gesehen habt.
Schwarz und Weiß sind seine Farben, die der Dunkelheit und des Lichts.« Er deutete auf das Schachspiel mit den schwarz und weiß bemalten Figuren. »Weiß kämpft gegen Schwarz um den Sonnenstein, und das Schachbrett sind die Gassen von Paris.«
»Ihr haltet Euch für den weißen Spieler, nehme ich an.«
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