Im Schatten von Notre Dame
Körpers, steige über die Mauern des Jetzt, schwimme durch den Fluss der Erinnerungen. Werde eins mit dir, wie du es immer warst!«
Schwindel packte mich, ließ mich taumeln. Der Bettkasten brach, nein, er floß auseinander, wie faules Holz, das zu einem zähen Brei verrinnt. Die Mauern bröckelten, ihre Konturen lösten sich auf. Die Flammen aus dem Kamin hüllten alles ein, doch ich fühlte keinen schmerzhaften Brand. Alles zuckte im Flammenrot, wurde von ihm verschluckt, zuletzt das narbenübersäte Gesicht und ich mit ihm …
Wir waren sechs und standen in einem großen Saal, der durch wenige Wandkerzen nur unzureichend erhellt wurde. Aber das war nicht wichtig, denn es gab noch ein anderes Licht. Grün und warm erstrahl-te es mitten im Raum, aus einem steinernen Altar, der wuchtig aus dem Felsboden wuchs. Das grüne Licht gebot Ehrfurcht und zugleich Zuversicht, Vertrauen. Es war das Glühen der Macht, zu geben und zu nehmen, des Werdens und Vergehens.
Zwei von uns – ich wußte, ihre Namen waren Bertrand de Marty und Gervais, der Bischof und sein Filius maior – traten zum Altar. Das Licht hüllte sie ein mit überirdischem Glanz, schien sie zu durchdringen, als seien sie nicht Wesen aus sündhaftem Fleisch. Brachte das Glü-
hen die Erlösung? Ich spürte Freude und Glück in mir aufsteigen und sehnte mich danach, ebenfalls in das warme Grün einzutauchen, um meine Seele durch sein Feuer zu läutern.
»Wir stehen vor dir, Stein des Lichts, der du bist die Kraft des Schöpfers«, sprach Bertrand. »Wir haben dich gehütet zum Guten, um dich vor dem Bösen zu bewahren. Aber das Böse ist stark, und die Mauern unserer Festung werden fallen. Deshalb mußt du Montségur verlassen, muß dein warmes, helles Feuer in kalter, dunkler Nacht versinken.«
Bertrand und Gervais fielen auf die Knie, und wir taten es ihnen nach. Gemeinsam beteten wir das Vaterunser. Dann erhoben sich die beiden vor dem Altar. Gervais hielt einen kleinen, unscheinbaren Holzkasten auf, während Bertrands Hände mitten in das grüne Feuer griffen. Gebannt verfolgte ich jede Bewegung, erwartete, daß die Hän-de des Bischofs verglühten und zu Asche zerfielen. Doch sie kehrten aus dem Feuer zurück, das in sich zusammensank und dann erlosch, als habe es nie geleuchtet.
Nur noch die Kerzen sandten schwache Lichtspeere durch das Dunkel, und undeutlich sah ich einen Stein in Bertrands Händen, dunkel, grün. Der Smaragd, der Sonnenstein! Doch jetzt, da er nicht länger strahlte, wirkte er nicht überirdisch oder gar göttlich, sondern eher gewöhnlich, enttäuschend. Der Bischof legte ihn in das Holzkästchen, das mit einem großen, metallenen Schloß versehen war. Bertrand verschloss den Kasten und ließ den Schlüssel verschwinden.
»Der Sonnenstein, der Stein des Lichts und des Todes, ist erloschen, und niemand weiß, ob er unsere Seelen jemals wieder erleuchten wird.
Nehmt ihn an euch, Brüder, und bringt ihn in Sicherheit. Tritt vor, Bruder Amiel-Aicart!«
Mein Herz schlug schneller, er meinte mich. Ich erhob mich, trat vor den Bischof und seinen Filius maior, nahm mit feuchten Händen den Kasten in Empfang. Stolz, Furcht und Glück bewegten mich.
Stolz darüber, als Hüter des Sonnensteins auserkoren zu sein. Furcht vor der Verantwortung; beging ich einen Fehler, war der Smaragd aus Luzifers Krone auf ewig verloren, oder schlimmer noch, er fiel in die Hände des Bösen. Aber das Glück, der göttlichen Macht so nahe zu sein, überwog alles, hüllte mich ein wie der Duft berauschender Kräuter. Kaum nahm ich wahr, wie einer nach dem anderen Bruder Hugo, Bruder Poitevin und Bruder Udaut vortraten, um ebenfalls verschlossene Kästchen zu empfangen, niedriger und länger als das meine.
Ernst und eindringlich sagte Bischof Bertrand: »Jeder von euch trägt einen Teil der Macht, den Stein des Lichts und den dreigeteilten Plan der Weltmaschine. Zusammen ergeben sie die Kraft der Schöpfung und der Vernichtung. Darum verwahrt sie gut und verhütet, daß alle vier Gaben den Dragowiten anheim fallen. Wenigstens einer von euch muß ihnen entkommen!«
Wir beteten noch ein Vaterunser und verließen den Saal durch einen langen, verwinkelten Gang ohne Fenster und Licht. Nur die Kerze, die Gervais mitgenommen hatte, entriss der Finsternis Flecke von grobem Felsgestein. Der Boden war rau, uneben und lud zum Stolpern ein. Kalte Zugluft kündigte das Ende unseres Wegs an, gefolgt vom bläulichen Schimmer des Nachthimmels. Außerhalb der Mauern
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