Im Schatten von Notre Dame
Schon wieder schwang Häme in meiner Stimme mit. Irgend etwas tief in mir trieb mich, den Geistermönch zu verletzen. »Und Frollo ist derjenige, der die schwarzen Figuren über das Brett bewegt.«
»Letzteres ist doppelt falsch. Frollo mag König und Königin in einem sein, so gefährlich sind seine Züge, aber er selbst ist auch nur eine Figur auf dem Spielbrett. Wer weiß, vielleicht zählt er sich sogar zur wei-
ßen Partei wie die meisten seiner Mitstreiter. Durch die Auflösung des Stofflichen wollen sie die Seelen erlösen, und dabei sind sie blind da-für, daß Satan sie lenkt.«
Ich stöhnte gequält auf. »Satan ist der schwarze Spieler?«
»Er lenkt die Züge, mag die ausführende Hand auch menschliche Gestalt besitzen. Leider konntet Ihr sein Gesicht nicht sehen, sonst wüsste ich jetzt, wer mein großer Gegenspieler ist!«
»Der Großmeister?«
»Ja!« Der Geistermönch stieß einen tiefen Seufzer aus. »Er muß mächtig sein, nicht nur im geheimen. Ich vermute, daß er aus der näheren Umgebung des Königs kommt. Nur so konnte er so viele Verbündete in Verwaltung und Kirche gewinnen. Zudem hat Ludwig selbst ein paar Mal Dom Frollo aufgesucht und ihn um alchemistischen Rat gebeten.«
»Zu welchem Zweck?«
»Der König benötigt stets Geld und fürchtet, das Ende seines Lebens sei nahe. Genau die Fälle, die es den Alchemisten schon immer einfach gemacht haben, Leichtgläubige zu verführen. Sie versprechen Gold und das Lebenselixier, aber bislang scheint niemand das Versprechen eingelöst zu haben. Nicht einmal Frollo, sonst hätten die Dragowiten Gold in Hülle und Fülle und müßten sich nicht mit Marc Cenaine herumärgern.«
»Ach ja, dieser seltsame Gefangene. Was hat es mit ihm auf sich?«
»Er hat entdeckt, daß sich schlechtes Geld im Staatsschatz befindet, minderwertige Münzen, von den Dragowiten hergestellt und gegen echtes Geld ausgetauscht. Erst haben sie Cenaine zum Schweigen er-presst. Als er das falsche Spiel nicht länger mitmachen wollte, haben sie ihn verschwinden lassen. Nun halten sie ihn an einem unbekannten Ort gefangen. Vermutlich wollen sie durch die Folter herausfinden, was er weiß und wem er sein Wissen mitgeteilt hat.«
Irgend etwas hatte Colette erschreckt. Ein Zittern lief durch ihre Arme, und Wasser schwappte über den Rand der Schale, bildete einen großen Fleck auf der Matratze. Für ein so junges Mädchen muß-
ten die Worte des Geistermönchs ungeheuerlich klingen. Das taten sie ja schon für mich.
Ich setzte mich auf und lachte dem anderen laut ins hässliche Angesicht. »Ihr wollt mir doch nicht erzählen«, prustete ich, »daß Satan Geld braucht?«
»Aber genauso ist es«, entgegnete er und zeigte erneut auf das Schachspiel. »Seine Spielfiguren sind Menschen, die Durst und Hunger haben, die für ihre Dienste – sofern sie nicht aus Überzeugung handeln –
entlohnt werden wollen. Als Satan die Welt des Stofflichen schuf, un-terwarf er sich zugleich ihren Gesetzen. O ja, er braucht Geld, um seinen Krieg zu führen, um den Sonnenstein zu finden!«
»Womit wir wieder beim Montségur wären. Was geschah mit Amiel-Aicart? Wurde er von den Helfern Udauts aufgespürt?«
»Nein, der Herr war mit ihm. Amiel-Aicart wandte sich dorthin, wo die Verfolger der vermeintlichen Ketzer deren größten Schatz am wenigsten vermuteten, nach Paris. Hierher war, nehmt es als Laune des Schicksals, auch Udaut gegangen.«
»Hat er denn überlebt?«
»Wie hätte er sonst nach Paris gehen sol en?« Der Geistermönch schien ein wenig verärgert über meinen Einwurf. Seine Hustenanfäl e kamen in kürzeren Abständen und wurden heftiger. Offenbar wol te er schnell zum Ende kommen. »Bleiben wir zunächst bei Udaut, der die Pläne der Weltmaschine nach Paris brachte. Ihr seid sicher begierig zu hören, was es damit auf sich hat. Nun, es bedarf nicht nur des Sonnensteins, um die Macht der Transmutation zu erwecken, die das Stoffliche wieder ins Geistige überführt. Ebenso wichtig für den Plan ist die Weltmaschine, die dem Smaragd erst die Entfaltung seiner Kraft ermöglicht. In Paris wurde die Maschine gebaut, irgendwo im geheimen.«
»Von Udaut?«
»Nein, von einem großen Gelehrten, der seine Fähigkeiten leider in den Dienst der Dragowiten stellte. Er kam aus Katalonien, hieß Ramón Lull und wurde Raimundus Lullus genannt.« Er zeigte auf das Bücher-bord. »Dort steht sein bedeutendes Werk Ars Magna et Ultima. Natürlich blieb die Machina Mundi, die Weltmaschine,
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